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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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die Plätze der anderen. Sie verkauft Tickets für die Vorstellungen und diese Kasse befindet sich ein Stockwerk tiefer. Ich stehe stets am Einlass und dort sah ich ihre Gestalt auf der anderen Seite des Raumes aus dem Fahrstuhl kommen und den Gang hinunter verschwinden, der zum Büro und dem Aufenthaltsraum führt. Zu Beginn erhaschte ich von ihr höchstens zwei, drei Sekunden und das über mehrere Monate. Ich war zu beschäftigt damit, zum Inventar zu werden. Und sie sah vielmehr in mir, was die anderen im Kino auch sind: gescheiterte Individuen, die das Geld zum Überleben brauchen.
    Doch sie, das seidene, schwarze Haar stolz und anmutig, die Figur schmal aber perfekt symmetrisch, ästhetisch, sie, die zu Beginn noch unbekannte Größe meines Lebens, gehört nicht zum Kino. Sie nutzt den Job nur aus, um sich ihre Freiheiten zu finanzieren, sich ausleben zu können ohne den Stress des gesellschaftlichen Lebens, das ich so verabscheue. Sie ist nicht gescheitert, das System scheitert an ihr.
     
    Ich arbeitete ungefähr seit einem halben Jahr im Kino und mein Vertrag war gerade in Vollzeit geändert worden, als ich mich eine der Routinen hingab. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, um dort im Supermarkt einzukaufen. Es ist derselbe Fahrstuhl, den sie immer benutzt, um vom Ticketverkauf in unser Stockwerk zu gelangen. Vom zweiten Stock ins Erdgeschoss sind es für gewöhnlich nicht mehr als zehn Sekunden. Doch diesmal bereitete ich mich darauf vor, für längere Zeit in der kleinen Kabine zu bleiben, weil sie plötzlich stehen blieb. Irgendwo zwischen dem ersten Stock und Erdgeschoss. Leise drang das Lachen von einem Kind an meine Ohren. Wahrscheinlich erwarben seine Eltern gerade Karten für unser Kino. Abgesehen davon war es still um mich.
    Mein Mobiltelefon hatte ich im Spind gelassen. Das Drücken des Alarmknopfs bewirkte, wie es mir schien, gar nichts. Die Enge drückte mich alsbald zu Boden. So setzte ich mich im Schneidersitz auf die kalte Aluminiumverkleidung. Mein Kopf war leer und ich wollte unbedingt eine Zigarette rauchen. Ich starrte nach unten und folgte den Mustern im Boden, die im Zickzack zu den Ecken der Kabine führten. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Spiel verharrte, ich weiß nur, dass ich laut auflachte, als die Kabine, genauso plötzlich wie sie angehalten war, weiterfuhr und sich die Türen öffneten. Sie vor mir, ein breites Grinsen in ihrem schmalen Gesicht, richtete ihre ersten Worte an mich: „Ach, hier versteckst du dich immer!“
    Unser erstes Gespräch war so bedeutungsvoll für mich wie sein Inhalt belanglos (Filme, Kollegen, Kunden). Sie wollte auch zum Supermarkt und nachdem wir zusammen eingekauft hatten, benutzten wir erneut den Fahrstuhl. Ich dachte nicht einen Moment daran, dass ich zuvor noch stecken geblieben war, denn auf unserem Weg nach oben geschah nichts. Alles wie zuvor. Dafür wurde meine Mittagspause von ihrem perfekten Antlitz erhellt.
    Es geschah, als wir im zweiten Stock ausstiegen. Sie verließ zuerst die Kabine und weil ich auf ihren Hintern stierte, vergaßen meine Hände zu halten, was ich zuvor gekauft hatte (Baguette, Aufstrich, Milchschnitten). Alles fiel zu Boden. Als ich die Lebensmittel, unter mädchenhaftem Lachen ihrerseits, wieder aufhob, fand ich sie. Die silberne Münze lag auf dem Zickzack-Irrgarten des Bodens, wo noch Minuten zuvor nichts gewesen war. Ich hob sie auf.
    „Musst du jetzt schon Geld vom Boden sammeln?“ fragte sie und kam so nah an mich heran, dass ich ihre Haare roch. Sie senkte den Kopf und schaute auf meine amerikanische Münze. Ja, es war meine. Nicht nur, weil ich sie gefunden hatte. Es war dieses Gefühl, als ich sie fand. Wie eine Bestätigung von außen, vielleicht von ihm, der großen Macht in meinem Leben. Oder von Gott. Vielleicht sind Gott und der Tod auch dieselben in unterschiedlichen Gewändern. Ich mag diesen Gedanken.
    „Die ist aus demselben Jahr wie der Fahrstuhl“, sagte sie. Ein erster Hinweis auf die lange Kette von Ereignissen, die mir widerfahren sollten.
    Sie weitete damit meinen Blick für etwas Wesentliches, das ich bisher übersehen hatte. 1973, das Jahr, mit dem ich eigentlich nichts verbinde, sollte für mich noch eine große Rolle spielen. Doch was sollte ich finden, zehn Jahre vor meiner Geburt? Welcher Zusammenhang wurde mir an diesem Tag zuteil? Ich wusste es nicht, aber die Neugierde war geboren worden.
    Erst viel später erinnerte ich eine alte Idee, von der ich fest annehme, dass
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