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Stille(r)s Schicksal

Stille(r)s Schicksal

Titel: Stille(r)s Schicksal
Autoren: Monika Kunze
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egal, hatte er gedacht und das Fläschchen an die Lippen gesetzt. Das Brennen, das er in seiner Kehle spürte, hatte ihn schließlich ruhiger gemacht. So war er imstande, mit seiner Tochter ein bisschen zu spielen und sie im Beisein der Amtstante zu füttern - ohne sich durch das Zittern seiner Hände zu verraten.
     

Angst vor dem eigenen Kind
     
    Noch nicht einmal vier Wochen waren seitdem vergangen.
    Das „Anwesen“ von Sven Stiller, wie hatte er dieses Wort immer gehasst, und jetzt war es im Dorf in aller Munde, bot wieder ein trostloses Bild.
    Doch ihn selbst kümmerte das am allerwenigsten.
    Er hatte sich damit abgefunden, dass er es sowieso nicht schaffen würde, Haus und Hof in Ordnung zu halten, solange seine Tochter noch so klein war und immerfort schrie.
    Und dann auch noch dieser Blick! Irre! Damit konnte er sich überhaupt nicht abfinden. Unerträglich war das, wie dieses winzige Bündel Mensch guckte!
    Alles Vertrauen und auch alles Wohlbehagen waren daraus verschwunden. Es war so ein seltsames Starren geworden, das überhaupt nicht zu einem Kind zu gehören schien.
    Immer wieder las er den Vorwurf darin: „Du bist als Vater ein Versager!"
    Das schrie ihm übrigens auch sein eigenes Spiegelbild immer wieder entgegen, wenn er nüchtern war.
    Doch sobald er etwas getrunken hatte, verstummte sein Gewissen.
    Schon war es ihm auch wieder gleichgültig, wie denn nun diese verdammte Babynahrung eigentlich zubereitet werden musste. Ach, was soll schon schiefgehen, dachte er dann, ein bisschen Pulver und ein bisschen Wasser dazu, fertig. Kann doch schließlich jeder.
    So rührte er oft einfach irgend etwas zusammen, Hauptsache, die Heulsuse hielt die Klappe. Doch meist erbrach sich Laura schon kurz nach der Mahlzeit. Schweinerei!
    Immer seltener konnte er sich aufraffen, das Kind, dessen Kleidung oder ihr Bett auch gleich wieder in Ordnung zu bringen. Wozu auch, dachte er müde, die kotzt doch eh gleich wieder alles voll.
    Die Folge war, dass Sven anfangs vor dem Gestank, der sich in allen Ritzen des Hauses eingenistet hatte, floh. Doch auch in seinem Trostkeller roch es bald so - und mit der Zeit gewöhnte er sich daran.
    Nur an Lauras Weinen konnte er sich nicht gewöhnen.
    „ Hör auf damit!" brüllte er sie an, doch je mehr er seine Stimme anhob, desto heftiger schrie sie. Er hielt sich die Ohren zu, nahm sie dann doch aus dem Bett, ließ sie fallen, hob sie wieder auf und rüttelte sie.
    Aber sie weinte meist solange, bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen war.
    An anderen Tagen ließ er sie einfach schreien, wenn weder Bitten noch Drohungen, weder Streicheln noch Schläge, sie beruhigen konnten.
    Vielleicht sollte ich doch die Kellertür noch polstern? Wie heute hatte er sich das schon manchmal überlegt, aber ein paar Tage würde es schon noch gehen, dachte er wieder. Vor dem Kellerverschlag hing sowieso schon eine alte Steppdecke, die hielt auch eine Menge Lärm ab.
    Keine zehn Pferde würden ihn heute dazu bringen, nach oben zu gehen. Sven hatte eine Heidenangst vor seinem eigenen Kind. Es war ihm unheimlich.
    Am besten wäre, für immer hier unten zu bleiben oder einfach tot zu sein, dann müsste er auch nie mehr in diese unerbittlichen Augen schauen.
    „ Anne“, schrie etwas aus ihm heraus, „wieso muss ich weiterleben?“
    War das etwa sein verdammtes Schicksal?
    In irgendeiner Ecke huschte etwas an der Wand entlang.
    Das Federbett, das die alte Decke aus dem Schuppen abgelöst hatte, fühlte sich klamm an. Das Kopfkissen war klumpig. Mit fahrigen Bewegungen begann er es aufzuschütteln. Es war das erste Mal in dieser Woche.
    Ach Anne, dachte er, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr...
    Ängstlich lauschte er nach oben.
    Das Wimmern in der Küche war immer leiser geworden. Als es schließlich ganz aufhörte, war Sven erleichtert.
    „ Na endlich hast du kapiert, dass es Abend ist und kleine Kinder schlafen müssen. Geht doch auch ohne Schläge, siehst du!"
    Wieder lauschte er. Nichts rührte sich.
    „ Siehst du, geht doch", flüsterte er, weil er fürchtete, er könne mit seinen Worten das Schreien womöglich wieder in Gang setzen. Da sei Gott vor!
    Aber von oben kam nicht ein einziger Laut.
    Nie wieder.
    Der Tod, den er sich heute besonders sehnlich herbeigewünscht hatte, war gekommen. Aber nicht zu ihm.
     

Ach, Anne … warum?
     
    Laura war noch nicht einmal zwei Jahre alt, als sie neben ihrer Mutter auf dem Wiesenberger Friedhof beerdigt wurde.
    Alles, was Beine hatte im
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