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Stille(r)s Schicksal

Stille(r)s Schicksal

Titel: Stille(r)s Schicksal
Autoren: Monika Kunze
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Vorwürfen zu erkennen.
    Sven vergaß in diesem Moment, dass er die Frau eigentlich nicht leiden konnte und lächelte ein bisschen schief zurück.
    Mitten in das klägliche Lächel hinein, sagte die Ärztin: „Laura ist im Aufenthaltsraum, sie singt dort mit den anderen Kindern Weihnachtslieder."
    „ Was? Sie singt? Da müssen Sie sich wohl irren, sie hat noch niemals gesungen!"
    Sven war schon wieder gereizt, weil er sich nicht vorstellen konnte, seine eigene Tochter in der Kinderrunde übersehen zu haben. Er wollte sich also sofort vergewissern, doch als er Anstalten machte, den Raum zu verlassen, hielt sie ihn auf.
    „ Herr Stiller, ich muss noch einmal mit Ihnen reden. Setzen wir uns doch einen Moment."
    Doch Sven wollte sich nicht setzen, er hatte jetzt keine Lust auf medizinisches Fachchinesisch oder gar Verhaltensmaßregeln. Palaver! Hörte das denn nie auf?
    Störrisch blieb er stehen und schob seine Hände noch tiefer in die Taschen.
    Die Ärztin, die sich schon an den Tisch gesetzt hatte, erhob sich wieder. Sie war ärgerlich. Schließlich warf sie ihm zwischen Tür und Angel nur ein paar Worte hin, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ganz ruhig und vernünftig mit dem Vater der kleinen Laura zu sprechen.
    „ Sie können Laura heute mit nach Hause nehmen, aber ich habe auch das Jugendamt verständigt - wegen der Unterernährung und einiger anderer Probleme.“
    Auch wenn die Ärztin es sich gewünscht hätte, Sven kam es nicht in den Sinn, nach den „anderen Problemen“ zu fragen. Er war aufgebracht, weil er mit dem Jugendamt nichts mehr zu tun haben wollte.
    „ Wieso Jugendamt?“, schrie er, „ich brauche keine Tagespflegemutter mehr, ich bin zu Hause und kann sehr gut selbst für meine Tochter sorgen. Außerdem war sie schon von Geburt an so mickrig. Ich tue jedenfalls mein Bestes."
    Die Ärztin hörte seinen verletzten Stolz, seinen Trotz und seine Einsamkeit heraus, aber sie war Kinderärztin und keine Psychologin. Sie empfahl ihm nur noch, vielleicht doch einen Psychologen aufzusuchen, aber Sven hörte sie kaum noch. Er war schon mit ausladenden Schritten auf dem Weg zum Aufenthaltsraum.
    Sven schaute sich nun jedes einzelnen Kind im Singkreis ganz genau an. Das flackernde Licht der Kerzen zeichnete tanzende Muster auf runde und schmale Kindergesichter. Und dann entdeckte er tatsächlich seine Tochter. Auch auf ihren Wangen tanzten die Lichter, sie saß kerzengerade da und bewegte die Lippen. Sven beugte sich etwas vor, um besser hören zu können. Doch die Laute, die sie von sich gab, klangen wirklich wie ein Lied! Nicht wie Weinen! Und wie frisch und rosig sie aussah!
    Jugendamt - dass ich nicht lache!
    Was die nur hier wieder hatten!
    Sven griff ihr kurzerhand unter die Achseln, nahm sie hoch, drehte sie zu sich herum und schüttelte sie ein bisschen.
    „ So, Laura, genug gesungen, heute geht es ab nach Hause!"
    Sven hatte alle ihm zur Verfügung stehende Liebe und Munterkeit in seine Worte gelegt, aber diese Laura verzog trotzdem weinerlich ihr Gesicht. Ihr Vater konnte die Welt nicht mehr verstehen.
     

Kein Handlungsbedarf?
     
    Sybille Kanter, Mitte vierzig und in einen langen grauen Mantel gehüllt, schaute sich in der Küche um und fand es ganz gemütlich dort. Die Gardinen waren zwar etwas schmuddelig, die Scheiben trübe. Einen Moment lang hatte sie sogar Verständnis für den jungen Witwer. Er tat ja nur, was andere im Winter auch taten. Er verschob solche Arbeiten wie Fensterputzen einfach auf das kommende Frühjahr …
    Sven beobachtete die Frau vom Jugendamt genau. Momentan wunderte sie sich wohl ein bisschen, dass auch das Kinderbett hier stand.
    „ Seit meine Frau tot ist", beantwortete Sven ihre eigentlich noch gar nicht gestellte Frage, „schlafen wir nicht mehr oben im Schlafzimmer. Hier in der Küche kann sich Laura wenigstens nicht erkälten. Oben glitzert ja das Eis an den Wänden, da ist kein Ofen."
    Der Heizkörper, der zu Annes Lebzeiten oben noch ein bisschen Wärme gespendet hatte, war kaputt gegangen, ihn reparieren zu lassen, hielt Sven für überflüssig. Im ganzen Zimmer machte sich dort der Staub breit, Spinnweben hingen von der Decke … ach, sollten sie doch in dem Zimmer wohnen, die blöden Spinnen. Ihn graute es seit langem, das Obergeschoß auch nur zu betreten.
    Sven hatte seine Tochter auf dem Schoß und fütterte sie. Löffel für Löffel von dem fertigen Babybrei verschwanden in dem erwartungsvoll aufgesperrten Kindermund.
    Laura hatte ein neues
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