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Stille(r)s Schicksal

Stille(r)s Schicksal

Titel: Stille(r)s Schicksal
Autoren: Monika Kunze
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Prolog
     
    Die Luft im Saal 3 des Landgerichts war zum Schneiden. Ungewöhnlich zahlreich drängten sich die Prozessbeobachter in den ersten Zuschauerreihen, dahinter hatten andere Neugierige Platz genommen. Voyeure. Männer und Frauen verschiedenster Alters- und Berufsgruppen waren sogar von weit her (die Nummernschilder der Fahrzeuge vor dem Gerichtsgebäude waren beredtes Zeugnis) angereist, um den letzten Akt des Aufsehen erregenden Dramas hautnah mitzuerleben.
    In der hintersten Reihe saß ein Mann um die sechzig mit schütterem grauen Haar und herabhängenden Schultern. Seine Wangen waren eingefallen, seine Lippen fast nur noch ein dünner Strich, sein Kinn jedoch verriet seine Herrschsucht. Das Auffälligste aber waren seine Augen: scheinbar unbeteiligt und eiskalt wirkten sie unter den buschigen Augenbrauen..
    Er saß an jedem Prozesstag auf demselben Platz, ganz außen, nahe der Flügeltür, damit er schnell und unauffällig verschwinden konnte, falls ihm übel werden sollte. Kaum eine Minute hatte er den Angeklagten aus den Augen gelassen.
    Ein anderer Mann, Anfang dreißig, hatte ebenfalls mit der Übelkeit zu kämpfen. Es würgte ihn schon, wenn er sich den Blick des alten Mannes auch nur vorstellte. Trotzdem musste er auf seinem Platz ausharren, konnte nicht einfach aufstehen und gehen, obwohl auch er nicht weit von der Tür saß.
    Er konnte sie schmerzhaft spüren, die Verachtung, mit der ihn der andere musterte. Was hätte er auch anderes erwarten können? War er nicht ein Monster, das sein eigenes Kind misshandelt und schließlich verhungern und verdursten lassen hatte? Jedes Mal, wenn der Staatsanwalt, der Richter oder auch sein Verteidiger den Namen seiner kleinen Tochter erwähnte, sah er Lauras kleinen Körper vor sich. Es war eine grauenvolle Vorstellung, für ihren Tod verantwortlich zu sein …
    Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er es bis heute nicht gewagt hatte, den Mann anzusehen, der in der letzten Reihe saß, ganz außen, gleich neben der Flügeltür. .
    Heute jedoch, am Tag der Urteilsverkündung, wollte er versuchen, Angst und Scham zu überwinden. Einmal nur wollte er ihm in die Augen schauen. Er musste sich zwingen, seinen Blick zu heben, und als es ihm endlich gelang, sah er etwas, was er bei diesem Menschen niemals für möglich gehalten hatte.
    Neben der Verachtung war in den Augen des alten Mannes für einen Moment auch noch etwas anderes aufgeblitzt: ein Fünkchen Liebe und das Bekenntnis von eigener Mitschuld.
    Überwältigt von dieser Entdeckung senkte der Angeklagte sofort den Blick und schloss die Augen. Niemand sollte ihm mehr in die Seele schauen können.
    Als der Vorsitzende Richter mit monotoner Stimme das Urteil und dessen Begründung verlas, herrschte zunächst eine gespenstische Stille, doch am Ende erhob sich ein empörtes Raunen.
    Im Gesicht des Angeklagten und nunmehr Verurteilten regte sich kein einziger Muskel. Man konnte meinen, dass ihm all das Gehörte völlig egal sei und er absolut keine Reue empfände.
    Doch verhielt es sich tatsächlich so?
    Er hatte unter den Zuschauern auch Leute entdeckt, die ihn von früher kannten. Sie hielten ihn vielleicht auch jetzt noch nicht für ein Monster.
    Und dann hatte es ja noch einen Menschen gegeben, der wusste noch besser als jeder andere, wie liebevoll er sein konnte. Doch diesen Menschen gab es nicht mehr. Er hatte Anne, seine Frau, an den Krebs verloren.
    Seitdem war er nicht mehr er selbst. Ihm kam es vor, als hätte jemand einen Schalter in seinem Inneren umgelegt. Sobald er das Wort Liebe auch nur von weitem hörte, ergriff er die Flucht.
    Liebe? Was sollte das sein? Er konnte sich nicht erinnern. Er spürte es mehr als dass er es wusste: Liebe würde er fortan weder empfangen noch geben können, nicht einmal seiner kleinen Tochter. War es nicht vielmehr so, dass er im Grunde nichts sehnlicher herbeiwünschte als seinen eigenen Tod? Warum also sollte ihn diese Urteilsverkündung noch interessieren?
    Der Mann mit der Todessehnsucht hieß Sven Stiller, war gerade im Namen des Volkes wegen fahrlässiger Tötung seiner Tochter Laura zu dreieinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.
    Der alte Mann, der den Platz in der hintersten Reihe rechts außen gewählt hatte, damit er den Gerichtssaal schnell und ohne Aufsehen verlassen konnte, falls ihm übel werden sollte, hieß Helmut Stiller und war der Vater des jungen Mannes und der Schwiegervater von dessen Ehefrau Anne Hellwig.
     

Zwei
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