Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich
Autoren: Charlie Higson
Vom Netzwerk:
Drahtzaun.
    Fünf Minuten später schlich er – die lange Angel in der einen Hand, die Tasche in der anderen – zwischen kantigen Felsbrocken zum See hinab.
    Als sein Vater noch lebte, hatte der ihm oft von Loch Silverfin erzählt, an dem er in seiner Kindheit geangelt hatte. Seine Geschichten waren es auch, die den Jungen auf die Idee gebracht hatten. Der Vater war ein begeisterter Angler gewesen, aber im Großen Krieg von 1914 war er von einem Granatsplitter getroffen worden. Das Schrapnell war in seinem Körper stecken geblieben und er hatte sich nie wieder von seiner Verwundung erholt. Am Ende konnte er kaum noch gehen und erst recht keine Angel mehr halten.
    Der Junge war voller Vorfreude. Jetzt war er der Mann im Haus. Er stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er eine wunderbar frische Forelle mit nach Hause brachte. Aber das allein war es nicht. Angeln war eine Herausforderung – und in diesem See zu angeln war die größte Herausforderung, die es gab.
    Loch Silverfin hatte die Form eines Fisches: lang und schmal und an einem Ende wie eine Schwanzflosse aufgefächert. Der See war nach einem riesigen Lachs aus einem schottischen Volksmärchen benannt worden – It’Airgrid , was Gälisch war und Silberflosse bedeutete. Dieser Furcht erregende Fisch war größer und stärker gewesen als alle anderen Lachse, die es jemals in Schottland gegeben hatte. Cachruadh , der Riese, hatte versucht ihn zu fangen. Der Kampf dauerte zwanzig Tage lang, und am Ende verschlang der Fisch den Riesen und spuckte ihn erst ein Jahr später in Irland wieder aus.
    Der Legende nach lebte der Lachs noch immer in dem See, ganz tief unten im dunkelsten Wasser. Der Junge glaubte zwar nicht so recht daran, aber dass es in Loch Silverfin Riesenfische gab, davon war er überzeugt.
    Von nahem sah der See wilder aus, als er es sich vorgestellt hatte. Die Uferseite am Fuß des Bergs war steil und fast durchgängig von nackten Felsen bedeckt, nur hier und da waren verkümmerte Binsen zu sehen. Am anderen Ende des Sees, eingehüllt in Nebelschwaden, konnte er die grauen, eckigen Umrisse des Schlosses erkennen. Es stand auf einer Insel, die sozusagen das Auge des Fisches war. Das Schloss war zu weit weg, als dass ihn jemand von dort in der Abenddämmerung hätte entdecken können.
    Der Junge hielt nach einem guten Platz zum Angeln Ausschau, fand jedoch zu seiner Enttäuschung keinen. Der Kiesstreifen am Seeufer war ungeschützt und von allen Seiten her einsehbar. Wenn einer der Wachleute auch nur in die Nähe kam, würde er den Eindringling sofort bemerken.
    Bei dem Gedanken an die Männer sah sich der Junge unbehaglich um. Er gestand sich ein, dass er Angst hatte. Die Männer waren nicht aus der Gegend; sie ließen sich fast nie im Dorf blicken, sondern lebten völlig abgeschieden in niedrigen, hässlichen Betonschuppen, die der Gutsbesitzer in unmittelbarer Nähe des Schlosstores hatte errichten lassen. Schritt für Schritt hatte er das alte Gemäuer in eine Festung verwandelt und die Männer waren seine Privatarmee. Der Junge hatte keine Lust, heute Abend einem von ihnen zu begegnen.
    Er war kurz davor, seinen Plan fallen zu lassen und wieder nach Hause zu gehen, als er plötzlich den perfekten Angelplatz entdeckte. An einer Spitze der Schwanzflosse hatte der See einen schmalen Wasserzulauf, den man allerdings auf den ersten Blick nicht bemerkte, da das Ufer mit großen Steinen bedeckt war. Hier, das wusste der Junge, würden die Forellen sich verborgen halten, um bei der Mündung auf Nahrungssuche zu gehen.
    Etwa zwanzig Fuß weit im See stand ein einzelner Granitfelsen. Wenn er es ungesehen bis dorthin schaffte, konnte er sich dahinter verstecken und die Angel in Richtung Wasserzulauf auswerfen. Dort würde er weder von Fisch noch Mensch bemerkt werden.
    Der Junge setzte sich ins Gras und zog seine Anglerstiefel an. Es war eine Schinderei gewesen, sie mitzuschleppen, aber jetzt konnte er sie gut gebrauchen. Genau genommen, war es eine wasserdichte Hose mit Schulterträgern, die an den Füßen in Stiefel überging und ihm bis zur Brust reichte. Sie verströmte den muffigen Geruch von altem, feuchtem Gummi.
    Geschickt befestigte er die Rolle an der Rute und zog die Schnur durch die Laufringe. Dann nahm er seinen Lieblingsköder, eine Lachsfliege, und befestigte ihn am Ende der Angel.
    Entschlossen ging er am Ufer entlang, bis er auf Höhe des Felsens war, und watete dann ins Wasser. Er musste seine Schritte vorsichtig setzen, daher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher