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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher
Autoren: Astrid Paprotta
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und als sie sein beständiges Nasehochziehen hörte, begriff sie, daß er weinte und daß er der einzige war, der das tat. Katja, unser Leben fällt in Stücke. Kannst du es hören?
    Sie blieben bei ihm, beide, bis der Notarztwagen kam. Ina lehnte an der Wand und sah Katja reglos neben Dorian knien, ein, zwei Meter entfernt. Weit weg. Stumm hielt sie seine Hand und blickte in sein Gesicht, nur in sein Gesicht, nirgendwohin sonst. Keine von ihnen bewegte sich, und auch Dorian lag still, viel zu still. Kein Geräusch, nur die Stimmen im Kopf, »Er muß atmen.«
    »Sie trug ihn überall mit sich herum«, wer sagte das, das war doch Katjas alte Freundin gewesen; »wenn er die Händchen irgendwohin patschte, fing sie sofort an, mit ihm zu reden – das ist ein Tisch, da wirst du später dran essen, das ist Gras, willst du mal riechen? Sie trug ihn überall mit sich herum.«
    Katja, nein, es ist nicht wahr. Wir träumen schlecht, wir wachen gleich auf, alle drei.
    Sag es, sag, daß wir träumen. Ein böser Traum, du wachst auf und schlägst die Decke weg, weil es so heiß ist, und sekundenlang willst du schreien, bis du merkst, es ist ja nicht wahr. Ist nur so dunkel überall, aber die Welt ist noch da, unser Leben. Sag das jetzt.
    Doch Katja sprach nicht, sah Dorian an. Erst als der Notarzt sich über ihn beugte, sagte sie: »Er atmet nicht.«
    Der Arzt war ein sanfter Mann mit einer so starken Brille, daß man seine Augen nicht sah. Er löste ihre Hand aus seiner und ging so behutsam mit Dorian um, als könnte er noch einmal zerbrechen. Ina wollte mit ihm reden, nein, nicht reden, ihn nur um etwas bitten. Sag es nicht, wollte sie sagen, laß es gut werden, laß ihn atmen. Sag es nicht. Er sagte es auch nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Die beiden Sanitäter, die mit ihm gekommen waren, sahen verlegen aus, als sie ihre Trage wieder hinausschoben, denn Tote fuhren nicht mit. Sanitäter transportierten keine Toten, und wenn einer starb unterwegs, mußten sie den Wagen desinfizieren. Als die Kollegen kamen, sagte sie: »Ich hab ihn getötet.«
    Stocker vertrat Pagelsdorf, Kissel kam hinterher. Beide hatten fremde Gesichter, bleich und krank, und guckten mit starren Augen auf Dorian, der jetzt warten mußte, bis die Totenträger ihn holten, um ihn mit einer grauen Plane zu bedecken wie seinen Bruder.
    »Was passiert nun mit ihm?« Katja hatte eine Hand auf seiner Wange.
    Kissel sagte: »Ja, er – ich weiß nicht, ich muß –« Er zog die Schultern hoch und blickte auf das Blut an der Wand.
    »Sie wissen es nicht.« Katja nickte leicht vor sich hin, den Blick auf Dorian gerichtet. »Sie hat dreimal auf ihn geschossen, wissen Sie es jetzt?« Dann sah sie Kissel an. »Jetzt hab ich keinen mehr, das ging so schnell – alle beide – weg.«
    Kissel holte Luft. Etwas Unbekanntes lag in seinem Blick, etwas wie Entsetzen. Er ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Leise fragte er: »Sie sind Frau Kammer?«
    Sie sah Dorian ins Gesicht und nahm eine Haarsträhne zwischen zwei Finger. »Früher«, murmelte sie, »so hieß ich früher mal.«
    Kissel sah sie nur an. Nach einer Weile atmete er heftig aus, als hätte er zu lange die Luft angehalten. Wie in Zeitlupe ließ er ihre Schulter los, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und verließ den Raum.
    Ein enger, dunkler Raum war das, den Ina erst richtig sah, als Stocker sie hinausschob. Eine kleine Höhle. Kaum Platz für Schritte, bloß ein paar alte Möbel und nichts an den Wänden. Blut jetzt, Blut war an der Wand, Dorians Blut. Stockers Finger umklammerten ihren Arm, als er sie in die Kneipe führte, und seine Stimme war hart, als er anfing zu fragen, wieviel Schüsse, wohin und warum?
    »Er wollte sie töten«, sagte sie.
    »Sagen Sie mir, wieviel Schüsse es waren. Wissen Sie das?«
    Sie dachte darüber nach. Sie versuchte sich zu erinnern, wollte das Geräusch zurückholen, das Dorian tötete, es war ihr ja so vorgekommen, als hätte der laute Knall ihn zu Boden geworfen, dieser entsetzliche Lärm. Sie versuchte zu zählen, wollte einen Knall vom anderen unterscheiden, doch es gelang ihr nicht.
    »Wieviel Schüsse?« wiederholte Stocker.
    »Ich weiß nicht, sie sagt doch – sie sagt drei.« Sie hielt zwei Finger in die Luft. »Das hat sie doch gesagt eben. Drei.«
    »Hat er Sie bedroht?« Seine Augen waren Schlitze, zu schmal jetzt, um hineinzusehen.
    »Nein, sie.« Ina schüttelte den Kopf. »Sie hat er bedroht, seine Mutter. Er wollte sie
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