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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher
Autoren: Astrid Paprotta
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Schutzpolizei wolle sie verarschen. Leiche auf dem Südfriedhof, klar, hatte sie gesagt, das glaub ich gern. Da war ihr auch gleich dieser Witz von dem Geisterfahrer eingefallen, der die Warnmeldung im Radio hört und vor sich hinmurmelt, ein Geisterfahrer? Hunderte! Da hatte sie es sekundenlang nicht ernst genommen.
     
    Oberkommissarin Ina Henkel kam sich manchmal wie ein Zombie vor, wandelte zwischen Leichen und berührte kalte, graue Haut. Seit sechsunddreißig Stunden hatte sie Bereitschaft, und als sei eine böse Macht am Werk, gab es Leichen immer dann, wenn sie Bereitschaft hatte. Zwischen zwei Gräbern lag der tote Junge wie ein müder Wicht auf Wanderschaft, das kurze, blonde Haar unter einer Kapuze verborgen, zugedeckt wie ein krankes Kind. Als die Techniker die Decke entfernten und sie seinen zerstörten Körper sah, wollte sie zu Hause anrufen, Tom, hör zu, es wird wieder spät, aber das merkst du ja, nicht? Wirst wieder maulen. Wirst zwei Dosen Bier trinken und dem Kater erzählen, wie langweilig das ist, auf dem Sofa Bier zu trinken und es dem Kater zu erzählen. Was wollten wir heute kochen, irgendwas mit Reis? Laß uns eine Flasche Rotwein trinken und am Computer ein paar Moorhühner abknallen, oder welche Ungeheuer beschießen wir zur Zeit? Nein, besser wir gucken ein Star-Trek-Video oder gehen gleich ins Bett, und weißt du was? Ich hab keine Ahnung, wer einen Toten so zudeckt wie einen Lebenden, als dürfe er nicht frieren.
    Er war so jung. Sie hatte sich angewöhnt, den Getöteten nicht richtig in die Gesichter zu sehen, nur auf Wunden und Male zu achten, als betrachte man Spuren auf einem Bild. Gewöhnlich konnte man ja den Horror noch erkennen, diesen eingefrorenen Schrecken in ihren Zügen, doch bei ihm war das anders, sein grauweißes Gesicht wollte sie berühren, weil es so ruhig war und zu seinem geschundenen Körper kaum paßte. Tot und doch nicht tot. Schlafend, ja, fast kam es hin, schlafend, bis man den Körper sah. Wie war es möglich, so gelassen auszusehen und so grauenhaft zerfetzt zu sein? Seine hellen Augen hinter der heilgebliebenen Brille waren auf sie gerichtet, als wollte er sagen: Glotz nicht so blöd.
    Helle Augen, wie Dorian. Vielleicht würde sie davon träumen, wann immer Zeit zum Schlafen blieb, wie er da stand, neben der Bahre, und sagte: Das ist mein Bruder.
    Als sie das Gelände verließ, hatten die Gaffer sich verzogen, nur ein Mann stand noch bei Nicole Mewes, der Leichenauffinder, dem außer der Leiche nichts aufgefallen war. Er hatte seinen Hund an einen Baumstamm gebunden, ein träges Riesenvieh mit traurigen Augen. Mensch und Tier wirkten wie Geschöpfe, die plötzlich aus ihrer Welt herauskatapultiert und irgendwo ausgesetzt worden waren, wo sie sich nicht auskannten.
    »Sind Sie das?« Der Mann blickte von Nicole zu Ina Henkel, und sie sagte probehalber: »Ja.«
    »Die Kripo?«
    »Ja.«
    »Der Hund regt sich so auf.«
    »Sicher.«
    »Das erlebt er ja nicht alle Tage.«
    »Sicher nicht.« Sie schlug mit zwei Fingern auf ihr Notizbuch, und der Mann sagte: »Ich hab den gefunden, wie ich gießen war, grauslich.«
    Sic nickte.
    »Grauslich«, wiederholte er. »Meine Frau, die liegt ja da, die muß ich gießen. Wie ich mich umdrehe, dachte ich erst, da liegt ein Penner auf der Erde, aber wie ich dann genauer gucke, war’s ein Mensch, ein junger Kerl.«
    »Wieso gießen Sie denn um diese Zeit?« fragte Ina, was der Mann mit einem Abriß seines Lebens beantwortete, Schichtdienst, mußte alles selber machen, weil Frau, wie gesagt, unter der Erde. Kaum Zeit zur Verfügung, weil er in seiner kargen Freizeit seinem Schwager noch half, ein Häuschen zu bauen. »Manchmal hat man Glück«, schloß er, »da ist hier offen. Meistens ist zu.«
    »Und heute?« fragte sie.
    »Na, es wird wohl offen gewesen sein, sonst wär ich ja nicht reingekommen.«
    Sie deutete auf seinen Hund. »Hat der was gemacht? Diese Vie … die Tiere merken doch manchmal was.«
    »Er war draußen.« Empört sah er sie an. »Er darf nicht mit auf den Friedhof, das wissen Sie doch genau, das sind doch Ihre Gesetze.«
    »Nein«, sagte sie, »ich mache keine Gesetze.«
    »Aber natürlich. Der darf nicht mit rein, den hab ich hier draußen angebunden. Gebellt hat er nicht, hätt ich gehört. Sagen Sie, war das ein richtiger Mord?«
    Sie antwortete nicht. In ihrem Bericht würde sie Tötungsdelikt schreiben, Tötungsdelikt zum Nachteil von Kammer, Robin, 18 Jahre. Sie steckte ihr Notizbuch weg und ging zum
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