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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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ansonsten nicht viel Neues, aber das hat Henning auch nicht erwartet. Es gibt noch keine Verdächtigen, das Motiv ist unbekannt, die Spurensicherung noch nicht abgeschlossen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch nicht gesagt werden kann, ob die eventuell gefundenen Spuren die Polizei weiterbringen.
    Und so weiter und so fort.
    Gjerstad ist mit seinen Ausführungen nach zehn Minuten zu Ende. Wie gewöhnlich wird danach den Journalisten das Wort erteilt, und in üblicher Weise ringen alle gleichzeitig darum, ihre Fragen als Erste zu stellen.
    Henning muss jedes Mal aufs Neue den Kopf darüber schütteln. Die »Erste Frage«, ein beständiger Quell für neidvolle Blicke der Kollegen und Schulterklopfen in den heimischen Redaktionen. Sowohl in den eigenen als auch in überraschend vielen anderen Augen ist man ein verflucht guter Journalist, wenn man es schafft, sich als Erster Gehör zu verschaffen.
    Den Sinn des Ganzen hat er nie verstanden, aber wahrscheinlich hat auch das nur wieder etwas mit der Schwanzlänge und so weiter zu tun.
    Dieses Mal heimst Guri Palme von TV 2 den Sieg ein. Sie hat zwar keinen Penis, ist aber eine blonde, hübsche Frau, die alle Nachteile, die dieses Erscheinungsbild mit sich bringt, zu ihrem Vorteil genutzt hat. Ihre Klugheit und Zielstrebigkeit hat alle überrascht, und sie ist auf der Karriereleiter der Journalisten definitiv auf dem Weg nach oben.
    »Was können Sie über die näheren Umstände des Mordes sagen? Herr Gjerstad, Sie sprachen von einer außergewöhnlich grausamen, bestialischen Tat. Was muss man sich darunter vorstellen?«
    Auf die Plätze, fertig, los …
    »Das kann und will ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vertiefen.«
    »Können Sie etwas über den Hintergrund des Opfers sagen?«
    »Soweit wir wissen, war sie Studentin an der Westerdals School of Communication. Sie war kurz vor dem Abschluss des zweiten Jahres und galt in ihrem Fachgebiet als höchst begabt.«
    »Welches Fachgebiet war das?«
    »Sie hatte den Schwerpunkt Film und Fernsehen und wollte Drehbuchautorin werden.«
    Drei Fragen sind genug für Guri Palme, danach übernimmt NRK den Staffelstab. Henning erkennt die Enttäuschung des Journalisten, der es dieses Mal nur auf den zweiten Platz geschafft hat, obgleich er nur seinen Nacken sieht. Trotzdem gelingt es dem NRK-Reporter, Jørn Bendiksen, sie alle zu verblüffen.
    »Es kursieren Gerüchte, dass es sich um einen Ehrenmord handelt?«
    Reporter. Niemand versteht sich so gut darauf wie sie, Behauptungen wie eine Frage klingen zu lassen. Pia Nøkleby schüttelt den Kopf.
    »Kein Kommentar.«
    »Können Sie bestätigen, dass das Opfer ausgepeitscht wurde?«
    Nøkleby hält Bendiksens Blick stand, bevor sie kurz zu Gjerstad schaut. Henning lächelt innerlich. Es gibt ein Leck, denkt er. Und die Polizei weiß das. Trotzdem reagiert Nøkleby vollkommen professionell auf die Frage.
    »Auch dazu kein Kommentar.«
    Kein Kommentar .
    Zwei Worte, die man mindestens zehnmal im Laufe einer Pressekonferenz hört, besonders zu einem so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen. »Aus taktischen Gründen«, heißt es. Diese Taktik zielt darauf ab, alle – auch den Täter – im Unklaren darüber zu lassen, welche Spuren gefunden und weiterverfolgt werden, damit sie in Ruhe die Beweise sammeln können, die sie brauchen, um später Anklage zu erheben.
    Nøkleby und Gjerstad wissen ganz genau, dass sie jetzt Theater spielen, denn NRK hat offensichtlich bereits zwei wichtige Steinchen des großen Puzzles: Ehrenmord. Auspeitschen. Bendiksen hätte solche Behauptungen nicht vor dem Plenum einer Pressekonferenz geäußert, wenn er sich seiner Sache nicht sicher wäre – oder zumindest relativ sicher. Pia Nøkleby schiebt sich die Brille zurecht. Arild Gjerstad sieht ein wenig unpässlich aus, und auch Bjarne Brogeland, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hat, rutscht auf seinem Stuhl herum, als suche er nach einer bequemeren Position.
    So ist es oft. Die Journalisten wissen mehr, als der Polizei lieb ist, was in vielen Fällen die Ermittlungen behindert. Es ist kein simpler Paartanz, denn beide Seiten sind voneinander abhängig, um Resultate zu erzielen. Darüber hinaus gibt es aufseiten der Journalisten noch die knallharte Konkurrenz zu allen anderen, die über das gleiche Thema berichten. Die Internetzeitungen publizieren in einem Tempo, das die Lebensdauer der Nachrichten begrenzt. Immer geht es darum, etwas Neues zu finden, wodurch der Druck auf die Polizei
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