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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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fehlerhaft, sodass aus einem vagen Verdacht, wenn er erst geäußert worden ist, schnell eine unverrückbare Wahrheit wird, die Menschen verurteilt. Das weiß er aus vielen Mordfällen, bei denen Angehörige erst als Verdächtige verhaftet werden – in den Zeitungen heißt es dann: Mann tötete seine Frau –, ehe sie am nächsten Tag, wenn die tatsächliche Wahrheit ans Licht kommt, wieder entlassen werden. In der Zwischenzeit aber haben die Medien genug Nägel in der Vergangenheit des angeblichen Täters ausgegraben, um damit den Deckel seines Sargs ordentlich zuzunageln.
    Kurzfristig ist die Wahrheit ein guter Freund, aber ein einmal geäußerter Verdacht löst sich niemals auf. Nicht bei Menschen, die einem völlig fremd sind. Außerdem erinnert man sich immer an das, woran man sich erinnern will . Henning ist überzeugt, dass es da draußen noch immer Leute gibt, die seine Rolle in Paul Erik Holmens letztem Auftritt noch nicht vergessen haben. Aber darüber macht er sich keine Sorgen. Er hat sich nichts vorzuwerfen, kann gut damit leben, was er getan hat, auch wenn die Polizei wahrlich nicht froh darüber war, dass er sich in ihre Arbeit eingemischt hatte.
    Aber das war er gewohnt.

7
    Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder in das silbergraue Gebäude am Grønlandsleiret 44 zu gehen. Dabei war das Präsidium früher einmal so etwas wie sein zweites Zuhause. Damals hatte er sogar die Putzfrauen geduzt. Jetzt versucht er, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, was bei den Narben in seinem Gesicht nicht ganz einfach ist. Er spürt die Blicke der anderen auf sich, grüßt aber niemanden. Er will einfach nur dort sein, will hören, was die Polizei zu sagen hat, bevor er zurück in die Redaktion geht und seinen Artikel schreibt, wenn es denn etwas zu schreiben gibt.
    Kaum in der Halle angekommen, bleibt er wie angewurzelt stehen. Nichts hätte ihn auf den Anblick der Frau vorbereiten können, die auffällig dicht neben einem Mann steht, der alle äußeren Zeichen eines Journalisten in sich vereint: dunkle Cordjacke, das distanziert arrogante Auftreten, das zu sagen scheint: »Habt ihr meinen gestrigen Artikel gelesen?«, der Dreitagebart, der das Gesicht dunkler macht, und die dünnen, mit Wasser nach hinten gekämmten Haare.
    Aber die Frau. Henning hatte keine Sekunde lang damit gerechnet, sie hier zu treffen. An seinem ersten Arbeitstag.
    Nora Klementsen. Seine Exfrau. Jonas’ Mutter.
    Er hat nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie ihn in Sunnaas besucht hat. Wann das gewesen ist, hat er vergessen. Oder vielleicht verdrängt. Ihren Blick aber würde er niemals vergessen. Sie hatte sich nicht überwinden können, ihn anzusehen. Aber damals wie heute machte er ihr keine Vorwürfe. Sie hatte ja in allem recht. Jonas war bei ihm gewesen, und er hatte versagt, hatte es nicht geschafft, ihn zu retten.
    Ihren Jungen.
    Ihren lieben, kleinen Jungen.
    Sie hatten schon damals getrennt gelebt, und sie war nach Sunnaas gekommen, um die letzten Formalitäten der Scheidung über die Bühne zu bringen. Sie hatte seine Unterschrift gebraucht, die er ihr gab. Ohne Hintergedanken, ohne Fragen, ohne Bedingungen. Eigentlich war er erleichtert. Er hätte es nicht ertragen, sie um sich zu haben. Das wäre wie eine konstante Mahnung an sein Versagen gewesen. Jeder Blick, jedes Gespräch wäre mit diesem Pinsel gemalt worden.
    Sie hatten damals nur wenige Worte gewechselt, dabei hätte er ihr gerne alles erzählt und ihr gesagt, was er getan und nicht getan hatte und an was er sich erinnerte. Aber es war kein Laut über seine trockenen Lippen gekommen, wie sehr er es auch versucht hatte. Nachdem sie gegangen war, hatte er nur die Augen zu schließen brauchen, und schon waren die Worte wie eine Maschinengewehrsalve aus seinem Mund geschossen. In seiner Vorstellung hatte sie ihn verstanden, und er hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt, während sie ihm mit den Fingern durch die Haare strich.
    Er nahm sich damals vor, es bei ihrer nächsten Begegnung noch einmal zu versuchen, aber dieser Tag heute ist dafür definitiv nicht der richtige, denkt er. Denn jetzt arbeitet er. Wie auch sie arbeitet. Und noch dazu steht sie bei diesem anderen Journalisten – und lacht.
    Verfluchter Aufschneider.
    Als Henning Nora Klementsen zum ersten Mal begegnete, arbeitete er bei der Zeitschrift Kapital , während sie ein ganz junges Küken bei der Aftenposten war. Sie waren sich bei einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten der Firma Aker
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