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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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liebt den Birkelunden-Park.
    Mit schleppenden Schritten geht er an Liebespaaren vorbei, an nackten Bäuchen, überschäumenden Bierdosen und erkalteten Einweggrillen. Ein alter Mann konzentriert sich und wirft eine silberfarbene Kugel auf andere silberfarbene Kugeln, die auf dem Schotter bei dem Bronzepferd liegen, das heute einmal nicht von Kindern belagert wird. Der Mann verfehlt sein Ziel. Wie immer.
    Du und ich, denkt Henning, wir haben viel gemeinsam.
    Der erste Regentropfen fällt, als er in die Seilduksgata einbiegt. Mit wenigen Schritten lässt er den Lärm von Grünerløkka hinter sich. Er mag diesen Lärm nicht. Er mag auch Chelsea nicht oder Politessen, aber was kann er schon dagegen tun. Es gibt viele Politessen in der Seilduksgata. Und vielleicht sind einige davon sogar Chelsea-Fans. Aber die Seilduksgata mag er. Das ist seine Straße.
    Während der Regen sanft auf seinen Kopf trommelt, läuft er der Sonne über der alten Segeltuchfabrik entgegen. Er lässt die Tropfen kommen und blinzelt, um die Konturen vor sich besser zu erkennen. Ein gigantischer gelber Baukran ragt vor ihm in den Himmel. Der steht jetzt schon eine Ewigkeit hier. Die Wolken hinter ihm sind bleigrau.
    Henning nähert sich der Kreuzung, an der der Markvei in voller Fahrt von rechts kommt, er denkt, dass morgen schon alles anders sein kann, und fragt sich, ob dieser Gedanke wirklich von ihm stammt oder ob ihm das jemand eingeredet hat. Vielleicht ändert sich ja gar nichts. Vielleicht klingen die Stimmen und Laute bloß ein bisschen anders.
    Wenn sich nicht tatsächlich alles verändert, alles oder nichts. In der Spanne, die sich dazwischen auftut, läuft die Welt rückwärts. Gehöre ich eigentlich noch dazu?, fragt er sich. Gibt es noch einen Platz für mich? Werde ich es schaffen, die Worte und Gedanken und Erinnerungen hervorzuholen, die tief in meinem Inneren begraben sind?
    Er weiß es nicht.
    Es gibt so viel, das er nicht weiß.
    Nach unzähligen Stufen, über denen der Staub über dem im Holz festgetretenen Dreck schwebt, schließt er auf der dritten Etage seine Wohnungstür auf. Der Übergang ist stimmig. Er wohnt in einem Loch. Es ist ihm lieber so, er glaubt, keine breite, ansehnliche Tür verdient zu haben oder Kleiderschränke, die geräumig wie Einkaufszentren sind, oder eine Küche mit glänzenden Schrankoberflächen und Arbeitsplatten wie polierte Schlittschuhbahnen. Selbstreinigende Küchengeräte, samtweiche Holzdielen, die nach langsamen Tanzschritten lechzen, oder Regale voller Klassiker und Lexika. Er verdient keine geschnitzte Uhr, keine Kerzenständer von Georg Jensen, keine in die Bettdecke eingenähte Kolibrivorhaut. Alles, was er braucht, ist die neunzig Zentimeter breite Matratze, einen Kühlschrank und einen Platz, auf den er sich setzen kann, wenn es dunkel wird. Und dunkel wird es.
    Jedes Mal, wenn er die Tür hinter sich schließt, hat er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Er beginnt, schneller zu atmen, der Schweiß bricht ihm aus, und seine Hände werden klamm. Rechter Hand im Flur steht eine Trittleiter. Er nimmt sie, steigt hinauf, zieht die Clas-Ohlson-Tüte von der alten, abgenutzten Hutablage und nimmt die Schachtel mit den Batterien hervor. Dann streckt er seinen Arm zum Rauchmelder empor, nimmt die Batterie heraus und ersetzt sie durch eine neue.
    Er überprüft sie, versichert sich, dass alles funktioniert.
    Während sein Atem sich langsam beruhigt, steigt er wieder nach unten. Er hat diese Rauchmelder lieben gelernt. So sehr, dass er inzwischen acht Stück von ihnen besitzt.

2
    Als der Wecker klingelt, dreht er sich missmutig um und brummt. Nur widerwillig lässt er den Traum davonziehen, als er die Augen aufschlägt und das Morgenlicht in sich aufnimmt. Eine Frau hat in dem Traum eine Rolle gespielt, und auch wenn er sich nicht mehr erinnert, wie sie aussah, weiß er, dass sie seine Traumfrau war.
    Er flucht, richtet sich auf und sieht sich um. Sein Blick bleibt an dem Pillenglas und der Schachtel Streichhölzer hängen, die immer neben ihm auf dem Nachtschränkchen parat liegen. Er seufzt, schiebt die Beine über die Bettkante und denkt, dass er es heute – heute – schaffen wird.
    Er holt tief Luft, reibt sich mit den Händen übers Gesicht und beginnt mit der einfacheren der beiden Übungen. Die Pillen. Trocken und scheußlich. Er schluckt sie wie immer ohne Wasser, weil es so am schwersten ist, zwingt sie am Zäpfchen vorbei in die Speiseröhre und wartet, dass sie im
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