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Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition)
Autoren: David Mark
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zu einer anderen wandert? Ob es nur eine begrenzte Menge von Agonie in der Welt gibt? Das ist das, worüber er am meisten sprach. Das ist der Gedanke, der ihn quälte. Ich denke, ich habe ihn zu sehr gehätschelt. Ihn reden lassen. Er brachte mir immer Alkohol mit …«
    McAvoy nickt. »Haben Sie ihm von Ihrer Arbeit erzählt? Von Ihren Interviews? Ungewöhnlichen Geschichten?«
    Chandler öffnet die Augen wieder. »Es war doch nur Gerede.«
    »Fred Stein?«
    Chandler nickt.
    »Trevor Jefferson?«
    Wieder ein Nicken.
    »Angie Martindale?«
    Und wieder.
    McAvoy schluckt mühsam. »Daphne Cotton?«
    Chandler antwortet nicht. Leckt sich nur über die Lippen. Ohne Stift und Notizbuch sind seine Hände leblose, kraftlose Gegenstände.
    »Einzige Überlebende, was?«
    Chandler nickt.
    Eine Weile sitzen sie schweigend da, lauschen dem Wind und dem Regen, der lustlos gegen das schmutzige Fenster trommelt.
    »Wann hat er beschlossen, sie alle zu töten?«, fragt McAvoy und starrt Chandler in die Augen, ohne zu blinzeln. Das Gesicht des Schriftstellers zerknittert wie ein altes Taschentuch, und er beginnt zu husten. McAvoy flößt ihm noch einen Schluck Wasser ein und lehnt sich dann zurück, ohne jemals den Augenkontakt zu unterbrechen.
    »Eines Nachts haben wir uns unterhalten«, sagt Chandler mehr zu sich selbst als zu McAvoy. »Meine Geschichten gefielen ihm. Ungewöhnliche Menschen, Sie wissen ja. Ich sagte, dass einen das schon zum Nachdenken bringen kann. Das große Ganze. Der Sinn des Lebens. Das Wesen der Existenz.«
    »Und Gibbons war ein gläubiger Christ, ja?«
    »Ein Junge aus der Mittelklasse. Ging jeden Sonntag zur Kirche, und im Internat sagte er brav seine Gebete auf, bevor er zu Bett ging.«
    »Aber war er wirklich gläubig?«
    »Ich glaube nicht, dass er bis zu der Explosion jemals etwas in Frage gestellt hatte. Dann ergab sein ganzes Leben plötzlich keinen Sinn mehr. Und er fand zu einer ganz eigenen Art von Religion.«
    »Betete er noch, während er in Linwood war?«
    »Nicht in meiner Gegenwart.«
    »Was hat es ausgelöst, Chandler? Worin hat er sich verbissen?«
    Einen Moment lang ist nichts zu hören außer Chandlers pfeifendem Atem. Schließlich ächzt er: »Ich sagte etwas von Wundern. Dem Tod von der Schippe zu springen. Gott zu betrügen, sozusagen. Ich fand eine clevere Phrase dafür. Sie hätte sich als Buchtitel geeignet. Aber letztlich war es doch nur eine Phrase …«
    »Und die lautete?«
    »Die ungerechte Verteilung von Wundern.«
    »Und das gefiel Gibbons?«
    »Es war, als hätte er gerade den Kopf von Johannes dem Täufer unter seinem Bett gefunden. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so verdammt anerkannt gefühlt.«
    »Anerkannt? Er hat sich Ihre Worte gegriffen und eine Religion daraus gemacht. Er hatte endlich den Zweck seines Daseins entdeckt. Seine Mission! Einen Weg, sie zurückzuholen.«
    »Das war mir nicht klar«, erwidert Chandler kopfschüttelnd und zieht den Rotz hoch. »Ich wusste nicht, was er vorhatte.«
    »Aber er hat mit Ihnen darüber gesprochen«, sagt McAvoy und beißt sich auf die Lippen. »Er hat Ihnen seine Gedanken anvertraut. Seinen Hohepriester um Rat gefragt.«
    Chandler wirft ihm einen Blick voll Zorn zu, den er aber rasch hinunterschluckt. »Ich sonnte mich in seiner Aufmerksamkeit.«
    »Was hat er Sie gefragt?«
    Die Antwort kommt tief aus dem Bauch des Schriftstellers und stinkt nach Galle und Reue.
    »Er fragte mich, ob ich glaube, dass Gnade eine begrenzte Ressource sei. Er las mir Passagen aus der Bibel vor. Aus Büchern, auf die er gestoßen war. Über Rechtschaffenheit. Über Gerechtigkeit. Über Wunder.«
    McAvoy ahnt bereits die Antwort auf seine nächste Frage.
    »Er wollte wissen, ob Sie glauben, dass Raum für ein neues Wunder geschaffen wird, wenn man ein anderes ungeschehen macht«, sagt er mit geschlossenen Augen. »Ob die Annullierung eines Akts der Gnade einen anderen erschaffen würde.«
    Schweigen breitet sich im Raum aus.
    »Und Sie sagten ja.«
    »Ich sagte, es könnte so sein.«
    »Und dann haben Sie den Russen für ihn angerufen. Den einarmigen blöden Popstar.«
    Chandler wirkt verwirrt. Er schüttelt den Kopf, als würde er nicht verstehen, und erstarrt dann langsam, als eine betrunkene Erinnerung aus seinem angegriffenen, in Alkohol marinierten Verstand aufsteigt.
    »Ich war betrunken«, jammert er.
    McAvoy schüttelt den Kopf. Er spürt einen Kloß im Hals. Die alte Narbe an seiner Schulter beginnt von eisigem Schmerz zu
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