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Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition)
Autoren: David Mark
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Oberfläche quietschen zu hören. Mag nicht einmal daran denken. Das ist der Grund, warum ich mir wegen dieser Reise hier nicht sicher war. Nicht wegen der Wellen. Nicht wegen des verfluchten Mistwetters. Es ist der Gedanke daran, ein paar Gummistiefel auf einem nassen Deck zu hören und das Gefühl zu haben, als hätte der Sturm von damals nie aufgehört …«
    Jetzt nickt die Reporterin. Caroline. Knapp über dreißig. Ohrringe aus Holz und eine Frisur wie ein neunjähriger Junge. Keine Schönheit, aber selbstbewusst und putzmunter. Make-up wie eine Nachrichtensprecherin. Londoner Akzent und teure Ringe an drei Fingern, Finger, die zu Beginn der Reise manikürt gewesen sind, deren Nägel jetzt aber an den Rändern ein wenig ausgefranst und ausgebessert erscheinen.
    »Dann ging es wieder los«, sagt er. »Es war, als säße man in einer Wellblechhütte, auf die jemand mit einem Kricketschläger eindrischt. Schlimmer noch. Wie auf einer Startbahn, von der hundert Flugzeuge gleichzeitig abheben. Dann begannen die Wellen, über uns zusammenzuschlagen. Die Gischt verwandelte die Luft zu Eis, und es war, als würden eine Million Nadeln gleichzeitig auf einen einstechen. Mein Gesicht und meine Hände brannten wie Feuer. Ich dachte, es würde mir die Ohren in den Schädel drücken. Ich war am ganzen Körper wie gelähmt. Ich konnte nicht mehr stehen. Konnte keinen Schritt mehr in eine bestimmte Richtung tun. Taumelte einfach auf dem Deck herum, knallte von einem Eck ins andere. Eine scheiß Flipperkugel, das war ich. Kullerte nur noch durch die Gegend und hoffte, es würde endlich aufhören. Ich hätte mir bei der Gelegenheit ein paar Knochen brechen können, aber ich erinnere mich nicht einmal daran, dass es weh tat. Es war, als könnten meine Sinne nicht alles gleichzeitig verarbeiten, was auf mich einstürmte. Alles war nur noch Lärm und Kälte. Und das Gefühl, dass die Luft sich selbst in Stücke reißt.«
    Sie ist glücklich, denkt er. Sie liebt das. Und er ist ziemlich stolz auf sich selbst. Es ist vierzig Jahre her, seit er diese Geschichte ohne ein Glas Bier in der Hand erzählen konnte, und der Becher Tee, den er in seiner plumpen, rosa marmorierten Faust hält, ist kalt geworden, ohne ein einziges Mal seine Lippen zu berühren.
    »Und wann erging dann der Befehl, das Schiff zu verlassen?«
    »Es war alles ein einziges Tohuwabohu. Entsetzlich finster. Die Lichter gingen in dem Moment aus, als wir auf die Felsen aufliefen. Haben Sie jemals Schnee und Gischt in der Dunkelheit gesehen? Es ist, als säße man in einem kaputten Fernsehgerät gefangen. Man kann nicht einmal mehr aufrecht stehen. Weiß nicht mehr, wo oben und unten ist …«
    Er fährt sich mit der Hand an die Wange. Entdeckt eine Träne. Er betrachtet sie, wie sie anklagend an seinem rissigen, faltigen Fingerknöchel hängt.
    Er hat seit Jahren seine eigenen Tränen nicht mehr gesehen. Nicht seit dem Tod seiner Frau. Auch damals haben sie ihn kalt erwischt. Nach der Beerdigung. Nach der Totenwache. Nachdem alle nach Hause gegangen waren und er die Teller wegräumte und Schweinekrusten und Chips in den Abfallkübel schmiss. Die Tränen waren gekommen, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Waren so lange gelaufen, dass er am Ende lachen musste, verblüfft von sich selbst, während er über die Spüle gebeugt stand und es ihm vorkam, als hätte er einen Wasserhahn auf jeder Seite der Nase: Und so ergoss er sich in das Meer, das er für sie aufgegeben hatte.
    »Mr Stein …«
    »Lassen wir es fürs Erste gut sein, meine Liebe. Machen wir eine Pause, ja?« Seine Stimme klingt immer noch kräftig. Rau von Zigaretten und Magenbitter. Aber auf einmal scheint er zu zittern. Fröstelt in seinem Anzug mit den speckigen Ellbogen und den fadenscheinigen Knien. Er schwitzt.
    Caroline scheint protestieren zu wollen. Will ihm sagen, dass sie schließlich aus genau diesem Grund hier sind. Dass das Zeigen von Gefühlen den Zuschauern helfen wird zu verstehen, wie tief ihn dieses Erlebnis geprägt hat. Aber sie hält den Mund, als sie begreift, dass es so klingen würde, als wollte sie einen dreiundsechzig Jahre alten Mann dazu auffordern, für die Kamera wie ein Baby zu flennen.
    »Morgen, meine Liebe. Nach dem Dings.«
    »Okay«, sagt sie und bedeutet ihrem Kameramann, dass er nicht weiter drehen soll. »Sie wissen doch, wie es ablaufen wird, ja?«
    »Sie werden mich schon rechtzeitig informieren.«
    »Nun, der Kapitän gibt uns eine Stunde Zeit, genau an der
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