Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
Vergangenheit und Gegenwart ineinandergeglitten waren. Und auch Großvater hatte sich gegen Ende seines Lebens schusselig benommen, wenn er nachts wach blieb und mit einer riesigen Schlüsselsammlung hantierte, von der kein Mensch gewusst hatte, dass er sie besaß, geschweige denn, wozu. Es lag in der Familie: Wenn man dem Glauben schenken wollte, was mein Vater erzählt hatte, war ihre Mutter am Ende ziemlich schusselig gewesen. Ihre letzte Handlung hatte darin bestanden, beim Heulen einer Sirene auf den Dachboden zu steigen, statt in den Keller zu gehen; laut Vater war sie in ihrem Haus die steile Speichertreppe hinuntergefallen und gestorben. Ob das so zutraf, wusste ich nicht, denn Vater tischte zu allem Lügen auf. Meine Intuition sagte mir zwar, dass es nicht der Wahrheit entsprach, aber es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden.
    Ich trug den Kessel zum Herd und stellte ihn auf die Platte. Das Ticken des Zeitschalters erfüllte die Küche. Unmittelbar darauf begann die feuchte Unterseite des Kessels zu knistern. Ich hatte die Arme verschränkt und betrachtete die Kuppe des jäh aufsteigenden Hügels vor dem Fenster, das weiße Haus, das dort oben thronte. Mir schoss durch den Kopf, dass ich mein Leben lang zu diesem Haus hinaufgeschaut hatte, ohne jemals einen Menschen in ihm oder in seiner Nähe gesehen zu haben.
    »Wo bleibt denn Yngve?«, sagte Großmutter.
    »Er wollte doch heute nach Stavanger«, sagte ich und drehte mich zu ihr um. »Zu seiner Familie. Er kommt dann zur Be… am Freitag zurück.
    »Stimmt, so war das ja«, sagte sie und nickte für sich. »Er wollte nach Stavanger.«
    Während sie nach dem Tabakbeutel und der kleinen, rotschwarzen Drehmaschine griff, sagte sie ohne aufzublicken:
    »Aber du bleibst hier?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich werde die ganze Zeit hier sein.«
    Es freute mich, dass sie mich eindeutig bei sich haben wollte, obwohl mir bewusst war, dass sie nicht unbedingt mich, nur irgendwen, um sich haben wollte.
    Sie schob den Griff der Maschine verblüffend schwungvoll nach vorn, zupfte die frisch gefüllte Hülse heraus und zündete sie an, fegte erneut Krümel von ihrem Schoß, saß da und stierte vor sich hin.
    »Ich habe mir überlegt, dass ich noch etwas putze«, sagte ich. »Später am Abend muss ich dann ein bisschen arbeiten und telefonieren.«
    »In Ordnung«, erwiderte sie und sah zu mir auf. »Aber so eilig hast du es doch nicht, dass du nicht einen Moment bei mir sitzen bleiben kannst?«
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich.
    Aus dem Kessel stieg ein Rauschen auf. Ich presste ihn fester auf die Platte, das Rauschen schwoll an, und nahm ihn dann vom Herd, streute etwas Kaffeepulver hinein, rührte mit einer Gabel um, klopfte einmal fest auf die Platte und stellte ihn auf den Untersetzer auf dem Tisch.
    »So«, sagte ich. »Jetzt muss er nur noch ein bisschen ziehen.«
    Die Fingerabdrücke auf dem Kessel, den wir nicht gespült hatten, stammten mit Sicherheit auch von Vater. Ich sah seine nikotinverfärbten Finger vor mir. Es war etwas Entwürdigendes an ihnen gewesen. Das triviale Leben, von dem sie zeugten, passte nicht zu der feierlichen Stimmung, die der Tod entstehen ließ.
    Oder von der ich mir wünschte, dass er sie entstehen ließe.
    Großmutter seufzte.
    »Ach, ja«, sagte sie. »Das Leben ist ein Gampf, sagte die Alte, denn sie konnte das K nicht sprechen.«
    Ich grinste. Großmutter grinste auch. Dann wurde ihr Blick erneut abwesend. Ich suchte in Gedanken nach einem Gesprächsthema, fand nichts, goss Kaffee in meine Tasse, obwohl er eher golden als schwarz war und noch Kaffeekörnchen an die Oberfläche wirbelten.
    »Möchtest du auch einen?«, sagte ich. »Er ist zwar ein bisschen dünn, aber …«
    »Ja, bitte«, sagte sie und schob ihre Tasse ein paar Zentimeter über die Tischplatte.
    »Danke«, sagte sie, als die Tasse halb voll war, griff nach dem gelben Behälter mit Kondensmilch und goss sich etwas dazu.
    »Wo bleibt denn Yngve?«, sagte sie.
    »Er ist nach Stavanger«, antwortete ich. »Zu seiner Familie.«
    »Stimmt ja. Das hatte er vor. Wann kommt er zurück?«
    »Am Freitag, glaube ich«, sagte ich.
    Ich spülte den Eimer im Ausguss sauber, ließ neues Wasser einlaufen, gab etwas Schmierseife hinein, zog die Spülhandschuhe an, griff mit einer Hand nach dem Lappen, der auf der Spüle lag, hob den Eimer mit der anderen an und ging in den hintersten Teil des Wohnzimmers. Draußen hatte gerade die Dämmerung eingesetzt. Ein schwacher bläulicher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher