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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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die Zeitung auf den Tisch.
    »Möchtest du keinen Kaffee?«, sagte sie.
    »Doch, gern«, antwortete ich.
    »Der Kaffeekessel steht auf dem Herd.«
    Etwas an ihrem Tonfall veranlasste mich, sie anzusehen. In diesem Ton hatte sie noch nie mit mir gesprochen. Seltsamerweise veränderte dies eher mich als sie. So musste sie in der letzten Zeit mit Vater gesprochen haben. Sie hatte sich an ihn und nicht an mich gewandt. Und so hätte sie sich niemals an Vater gewandt, wenn Großvater noch gelebt hätte. Es war der Ton zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, wenn sonst niemand dabei war.
    Ich glaubte nicht, dass sie mich für Vater hielt, nur, dass sie aus reiner Gewohnheit so gesprochen hatte, wie ein Schiff noch weitergleitet, nachdem der Motor längst ausgeschaltet worden ist. Trotzdem wurde mir eisig kalt. Aber ich durfte mir nichts anmerken lassen, weshalb ich eine Tasse aus dem Schrank nahm, zum Herd ging und prüfend einen Finger auf den Kessel legte. Er war schon seit längerem nicht mehr heiß.
    Großmutter pfiff ein wenig und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Das hatte sie getan, so lange ich denken konnte. Es tat gut, dies zu sehen, da sich ansonsten an ihr so viel verändert hatte.
    Ich hatte Anfang der dreißiger Jahre entstandene Fotos von ihr gesehen, und sie war schön gewesen, nicht atemberaubend, aber doch so, dass sie auffiel, und zwar in der für die damalige Zeit typischen Art: dunkle, kurze Haare, dramatische Augenpartie, ein kleiner Mund. Als sie Ende der fünfziger Jahre, eine Frau mittleren Alters und Mutter von drei Kindern, auf Reisen vor Sehenswürdigkeiten posierte, war alles, was sie ausgezeichnet hatte, noch da, wenn auch weicher, weniger klar, aber dennoch nicht undeutlich, nach wie vor konnte man sie schön nennen. Als ich aufwuchs und sie Ende sechzig und Anfang siebzig war, sah ich natürlich nichts in der Art, sie war einfach »Großmutter«, was für sie typisch war und etwas darüber aussagte, wer sie war, nahm ich nicht wahr. Eine ältere Frau aus dem Bürgertum, die sich gut hielt und gut kleidete, das muss der Eindruck gewesen sein, den sie damals, Ende der siebziger Jahre vermittelte, als sie etwas so Ungewöhnliches tat, wie den Bus zu uns zu nehmen und plötzlich in unserer Küche in Tybakken zu sitzen. Lebhaft, geistesgegenwärtig, kerngesund. Vor zwei Jahren war sie noch so gewesen. Dann war etwas mit ihr passiert, aber es war nicht das Alter gewesen, das sie gepackt hatte, auch keine Krankheit, sondern etwas anderes. Ihre Abwesenheit hatte nichts von der milden Weltabgewandtheit oder Lebenszufriedenheit alter Menschen, sie war vielmehr hart und so mager wie der Körper, in dem sie sich eingenistet hatte.
    Ich sah es, konnte aber nichts dagegen tun, keine Brücke bauen, ihr weder helfen, noch sie trösten, es nur sehen, so dass ich jede Minute, die ich mit ihr verbrachte, angespannt war. In Bewegung zu bleiben, war das Einzige, was mir half, nichts von all dem, was es im Haus oder in ihr gab, an mich heranzulassen.
    Sie pflückte mit der Hand einen Tabakkrümel von der Lippe. Sah zu mir herüber.
    »Möchtest du auch noch einen?«, sagte ich.
    »Stimmte mit dem Kaffee was nicht?«, wollte sie wissen.
    »Er war nicht mehr richtig heiß«, antwortete ich und ging mit dem Kessel zur Spüle. »Ich setze neuen auf.«
    »Er war also nicht mehr so heiß, du.«
    Wollte sie mich zurechtweisen?
    Nein. Denn dann lachte sie und bürstete einen Krümel von ihrem Schoß.
    »Ich werde wohl langsam ein bisschen schusselig«, erklärte sie. »Ich war mir sicher, ich hätte ihn gerade erst gekocht.«
    »Er war jetzt nicht so kalt«, sagte ich und drehte den Wasserhahn auf. »Aber ich trinke ihn nun mal am liebsten brühend heiß.«
    Ich spülte den Kaffeesatz heraus und ließ den Wasserstrahl auf den Boden der Spüle spritzen, bis alles im Ausguss verschwunden war. Dann füllte ich den Kessel, der innen ganz schwarz und außen von fettigen Fingerabdrücken übersät war, mit neuem Wasser.
    »Schusselig« war der in unserer Familie gängige Euphemismus für Senilität. Großvaters Bruder Leif hatte sich »schusselig« verhalten, als er wiederholt das Altersheim verließ und zu seinem Elternhaus ging, in dem er seit sechzig Jahren nicht mehr gewohnt hatte, um dort abends und nachts vor der Tür zu stehen und anzuklopfen und zu schreien. Sein zweiter Bruder Alf war in den letzten Lebensjahren ebenfalls schusselig geworden; bei ihm hatte sich dies vor allem darin bemerkbar gemacht, dass
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