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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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machte er keine Anstalten, das Gespräch zu beenden, so dass ich das in die Hand nehmen musste. Als ich aufgelegt hatte, wählte ich Tonjes Nummer. Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie auf meinen Anruf gewartet hatte. Ich sagte ihr, ich sei ziemlich kaputt und dass wir am nächsten Tag länger reden könnten und sie ja auch schon in ein paar Tagen herkommen würde. Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten, dennoch fühlte ich mich hinterher besser. Ich fischte die Zigaretten und ein Feuerzeug vom Küchentisch und ging auf die Veranda hinaus. Auch an diesem Abend war die Bucht voller Boote, die sich dem Hafen näherten. In der milden Luft hing wie immer, wenn der Wind aus Norden kam, der für diese Stadt typische Geruch von Bauholz, der Duft der Pflanzen im Garten unter mir und schwach, kaum wahrnehmbar, das Aroma des Meers. Im Zimmer hinter mir flackerte das Licht des Fernsehapparats. Ich stellte mich an das schwarze, schmiedeeiserne Geländer und rauchte. Als ich fertig war, presste ich meine Zigarette gegen die Außenseite der Mauer, und die Glut fiel wie kleine Sterne in den Garten unter mir. Wieder im Haus vergewisserte ich mich als Erstes, dass Großmutter noch im Wohnzimmer saß, bevor ich die Treppe zum Schlafzimmer auf dem Dachboden hinaufstieg. Mein Koffer lag offen neben dem Bett. Ich holte den Pappkarton mit dem Manuskript heraus, setzte mich auf die Bettkante und riss das Klebeband ab. Der Gedanke, dass daraus tatsächlich ein Buch geworden war, das erscheinen würde, traf mich mit voller Wucht, als ich die Titelseite sah, die in der Korrekturfahne so anders gesetzt war als in der Version, an die ich mich gewöhnt hatte. Ich legte sie unverzüglich ganz nach unten, darüber konnte ich mir hier keine Gedanken machen, zog einen Bleistift aus der Tasche im Koffer, griff nach dem Blatt mit der Übersicht zu den Korrekturzeichen, setzte mich so aufs Bett, dass mein Rücken am Kopfende lehnte, und legte mir den Manuskriptstapel in den Schoß. Die Sache eilte, weshalb ich mir vorgenommen hatte, an den Abenden möglichst viele Seiten durchzuarbeiten. Bis jetzt war dazu jedoch keine Zeit gewesen. Aber ohne Yngve und da es kaum später war als acht, lagen immerhin vier Stunden möglicher Arbeitszeit vor mir, wenn nicht noch mehr.
    Ich begann zu lesen.
    Die beiden schwarzen Anzüge, die an den halb geöffneten Schranktüren über dem Bett hingen, störten meine Konzentration, denn während ich las, ahnte ich ihre Anwesenheit ständig, und obwohl ich wusste, dass es nur zwei Anzüge waren, warf die Vorstellung, dass es sich um wirkliche Körper handeln könnte, Schatten auf mein Bewusstsein. Wenige Minuten später stand ich auf, um sie zu entfernen. Hielt in jeder Hand einen Anzug und sah mich nach einer Stelle um, an der ich sie aufhängen konnte. An die Gardinenstange über dem Fenster? Dort würden sie noch besser zu sehen sein als vorher. An den Türrahmen? Nein, darunter ging ich doch ein und aus. Schließlich verließ ich das Zimmer und ging in den benachbarten Trockenspeicher, wo ich sie an die Leinen hängte. Dort, frei schwebend, sahen sie mehr denn je wie Gestalten aus, aber wenn ich die Tür schloss, taten sie es immerhin außer Sichtweite.
    Zurück im Zimmer setzte ich mich aufs Bett und machte weiter. In den fernen Straßen beschleunigte ein Auto. Aus der Etage unter mir schallte der Ton des Fernsehers zu mir herauf. In dem ansonsten leeren und stillen Haus hörte sich das völlig verrückt an, ein Irrsinn in den Zimmern.
    Ich blickte auf.
    Ich hatte dieses Buch für Vater geschrieben. Das hatte ich nicht gewusst, aber es stimmte. Ich hatte es für ihn geschrieben.
    Ich legte das Manuskript zur Seite, stand auf und ging zum Fenster.
    Bedeutete er mir wirklich so viel?
    Oh ja, das tat er.
    Ich wollte, dass er mich sah.
    Zum ersten Mal verstanden, dass mein Text wirklich gut war und ich nicht nur hoffte, dass er gut war oder so tat, als wäre er es, hatte ich, als ich eine Passage über Vater schrieb und dabei in Tränen ausbrach. Das war mir noch nie, nicht einmal ansatzweise passiert. Ich schrieb über Vater, und Tränen liefen mir die Wangen hinunter, ich konnte Tastatur und Bildschirm kaum sehen, tippte einfach weiter. Von der Existenz der Trauer, die in mir freigesetzt wurde, hatte ich nichts geahnt, nichts gewusst. Mein Vater war ein Idiot, ein Mensch, mit dem ich nichts zu tun haben wollte, und es machte mir nichts aus, mich von ihm fernzuhalten. Es ging nicht darum, etwas fernzuhalten, es ging
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