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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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danke«, sagte sie. »Aber nimm dir ruhig etwas.«
    Durch den Anblick von Vaters Leiche war bereits der bloße Gedanke an Essen ekelerregend geworden. Aber eine Tasse Tee konnte ich ja wohl kaum mit dem Tod in Verbindung bringen? Ich erhitzte Wasser in einem Topf auf dem Herd, goss es dampfend auf den Teebeutel in der Tasse. Beobachtete einen Moment, wie sich die Farbe daraus löste und in bedächtigen Spiralen in das Wasser floss, bis es überall golden war, nahm die Tasse und trug sie auf die Veranda hinaus. Weit draußen, an der Mündung des Fjords, näherte sich die Dänemarkfähre. Über ihr hatte es vollständig aufgeklart. Es gab immer noch Spuren von Blau in der Dunkelheit am Himmel, was ihm ein stoffliches Aussehen verlieh, als wäre er in Wahrheit ein riesiges Tuch, und als stammten die Sterne, die ich sah, von dem Licht dahinter, das durch Tausende winziger Löcher hindurchschien.
    Ich trank einen Schluck, stellte die Tasse auf der Fensterbank ab. Von jenem Abend mit Vater war mir noch mehr in Erinnerung geblieben. Der Bürgersteig war von einer buckeligen Eisschicht bedeckt gewesen, Ostwind war durch die fast menschenleeren Straßen gefegt. Wir waren in ein Hotelrestaurant gegangen, hatten die Mäntel abgelegt und uns an einen Tisch gesetzt. Vater atmete schwer, strich sich mit der Hand über die Stirn, griff nach der Speisekarte, ließ den Blick nach unten schweifen. Begann oben von vorn.
    »Es sieht ganz so aus, als würden sie hier keinen Wein ausschenken«, erklärte er, stand auf und ging zum Kellner. Er sagte etwas zu dem Mann. Als dieser den Kopf schüttelte, machte Vater abrupt kehrt und kam zurück, riss seine Jacke beinahe vom Stuhl und zog sie an, während wir zum Ausgang gingen. Ich eilte ihm hinterher.
    »Was war los?«, sagte ich, als wir wieder auf dem Bürgersteig standen.
    »Sie schenken keinen Alkohol aus«, antwortete er. »Großer Gott, das war ein Abstinenzlerhotel.«
    Dann sah er mich an und lächelte.
    »Zum Essen müssen wir doch Wein trinken, nicht? Aber das ist kein Problem. Hier drüben gibt es noch ein anderes Restaurant.«
    Wir landeten im Caledonien, saßen an einem Fenstertisch und aßen Steaks. Das heißt, ich aß; als ich aufgegessen hatte, lag Vaters noch praktisch unangetastet auf dem Teller. Er zündete sich eine Zigarette an, trank den letzten Schluck Rotwein, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und meinte, er beabsichtige, als Lastwagenfahrer zu arbeiten. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, nickte nur stumm. Lastwagenfahrer hätten es gut, meinte er. Er sei immer gerne Auto gefahren, immer gerne gereist, und wenn man das tun könne und noch dazu dafür bezahlt werde, worauf warte man dann eigentlich noch? Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Spanien, Portugal, sagte er. Ja, das ist ein toller Beruf, sagte ich. Aber jetzt wird es langsam Zeit aufzubrechen, sagte er. Ich bezahle. Geh du ruhig schon mal. Du hast sicher viel zu tun. Es war schön, dich zu sehen. Und ich ging auf seinen Vorschlag ein, stand auf, nahm meine Jacke, sagte Tschüss und schlenderte ins Hotelfoyer und auf die Straße hinaus, überlegte einen Moment, ob ich ein Taxi nehmen sollte oder nicht, und machte mich anschließend auf den Weg zum Busbahnhof. Durch das Fenster sah ich ihn noch einmal, er ging durch das Restaurant zu einer Tür am hinteren Ende des Raums, die zu den Bars führte, und einmal mehr waren seine Bewegungen trotz des großen und massigen Körpers ungeduldig und schnell.
    Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.
    Es war mir die ganze Zeit so vorgekommen, als hätte er sich zusammengerissen und in diesen zwei Stunden all seine Kräfte mobilisiert, um bei klarem Verstand und präsent zu sein, um so zu sein, wie er einmal gewesen war.
    Der Gedanke schmerzte mich, als ich auf der Veranda hin und her ging und mal auf die Stadt, mal aufs Meer starrte. Ich erwog loszuziehen, in die Stadt zu gehen oder vielleicht auch stadtauswärts zum Stadion, konnte Großmutter aber nicht alleine lassen und verspürte außerdem auch gar keinen Drang zu gehen. Morgen würde im Übrigen alles anders aussehen. Der Tag kam immer mit mehr als bloßem Licht. So niedergeschlagen man auch sein mochte, es war unmöglich, völlig unbeeindruckt davon zu bleiben, was er an Anfängen brachte. Und so nahm ich meine Tasse mit hinein, stellte sie in die Spülmaschine, tat das Gleiche mit den herumstehenden Tassen und Gläsern, kleinen und großen Tellern, schüttete
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