Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
Phänomen nach, dass jedes der Häuser, in die ich kam, aller Nachbarn und Verwandten, seinen ganz eigenen, spezifischen Geruch besaß, der sich niemals veränderte. Alle, außer unserem eigenen Haus. Es hatte keinen eigenen, spezifischen Geruch. Es roch nicht. Wenn meine Großeltern uns besuchten, brachten sie den Geruch ihres Hauses mit; mir war insbesondere ein Überraschungsbesuch Großmutters im Gedächtnis geblieben, von dem ich nichts gewusst hatte, und als ich nach der Schule heimkehrte und den Geruch im Flur wahrnahm, glaubte ich deshalb, ich würde ihn mir einbilden, weil keine anderen Anzeichen ihn stützten. Kein Auto in der Einfahrt, keine Kleider oder Schuhe im Flur. Nur der Geruch. Aber es war keine Einbildung: Als ich hochkam, saß Großmutter in voller Montur in der Küche, sie hatte den Bus genommen, uns überraschen wollen; das sah ihr ganz und gar nicht ähnlich. Dass der Geruch in ihrem Haus heute, zwanzig Jahre später, noch der gleiche sein sollte, nachdem sich so viel darin verändert hatte, war eigenartig. Es war vorstellbar, dass er mit Gewohnheiten zusammenhing, damit dass man die gleichen Seifen, Putzmittel, Parfüms und After Shaves benutzte, die immer gleichen Gerichte auf die immer gleiche Art zubereitete, täglich von der gleichen Arbeit heimkehrte und sich nachmittags und abends mit den gleichen Dingen beschäftigte: wurde an Autos herumgeschraubt, nun ja, dann hingen eben Elemente von Öl und Terpentinersatz, Metall und Abgasen in der Luft, wurden alte Bücher gesammelt, tja, dann hingen Elemente von vergilbtem Papier und altem Leder darin. Aber in einem Haus, in dem alle früheren Gewohnheiten ein Ende gefunden hatten, in dem Menschen gestorben und die Zurückgebliebenen zu alt waren, um noch zu tun, was sie sonst immer getan hatten, was war mit dem Geruch in diesen Häusern, wie konnte er unverändert sein? Steckten vierzig Jahre Leben in den Wänden, war es das, was ich beim Eintreten jedesmal spürte?
    Statt sofort zu Großmutter hinaufzugehen, öffnete ich die Kellertür und stieg ein paar Schritte die schmale Stiege hinunter. Die kalte, dunkle Luft, die sich um mich legte, war wie ein Konzentrat der Luft im restlichen Haus, exakt so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Dort unten hatten sie im Herbst die Kisten voller Äpfel, Birnen und Pflaumen gelagert,und zusammen mit dem Dunst alten Gemäuers und von Erde hing unterschwellig auch deren Geruch im Raum. Ich war nur drei oder vier Mal dort unten gewesen; genau wie die Zimmer auf dem Dachboden war auch der Keller für uns verbotenes Terrain gewesen. Aber wie oft hatte ich nicht im Flur gestanden und Großmutter von unten mit einer Tüte gelber, saftiger Pflaumen oder roter, leicht runzeliger und wunderbar aromatischer Äpfel für uns hochkommen sehen?
    Licht fiel lediglich durch ein kleines, bullaugenähnliches Fenster an der Wand herein. Da der Garten tiefer lag als der Eingangsbereich des Hauses, blickte man direkt hinein. Die Perspektive war verwirrend, die Wahrnehmung räumlicher Zusammenhänge löste sich auf, und für einen kurzen Moment war es, als verschwände der Boden unter mir. Dann, als ich mit der Hand das Geländer packte, stand mir alles wieder deutlich vor Augen: Ich war hier, das Fenster dort, der Garten dort, der Eingang zum Haus dort.
    Ich blieb eine Weile stehen und starrte aus dem Fenster, ohne dass etwas haften blieb und ich an etwas Bestimmtes gedacht hätte. Dann wandte ich mich um und ging in den Flur hinauf, hängte die Jacke an der Garderobe auf einen Kleiderbügel, warf in dem Spiegel, der neben der Treppe an der Wand hing, einen Blick auf mich. Die Mattigkeit überzog meine Augen mit einer Membran. Als ich schließlich die Treppe hinaufstieg, tat ich es mit schweren Schritten, damit Großmutter hörte, dass ich kam.
    Sie saß noch am Küchentisch, wie wir sie Stunden zuvor verlassen hatten. Vor ihr standen eine Tasse Kaffee, ein Aschenbecher und ein Teller voller Krümel von dem Brötchen, das sie gegessen hatte.
    Als ich zur Tür hereinkam, schaute sie in ihrer flinken, vogelähnlichen Art auf.
    »Ach, du bist es«, sagte sie. »Ist es gutgegangen?«
    Wahrscheinlich hatte sie vergessen, wo ich gewesen war, sicher konnte ich mir allerdings nicht sein, weshalb ich ihr mit dem in dieser Situation erforderlichen Ernst in der Stimme antwortete.
    »Ja«, sagte ich und nickte. »Es ist gut gelaufen.«
    »Schön«, sagte sie und drehte den Kopf zurück. Ich machte einen Schritt in den Raum hinein und legte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher