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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Es ist kein besonders schöner Anblick, da war ja so viel Blut, wissen Sie, so dass … nun ja, wir haben getan, was wir konnten, aber man sieht es immer noch.«
    Blut?
    Er sah uns an.
    Mich schauderte es.
    »Sind Sie bereit?«
    »Ja«, sagte Yngve.
    Ich stellte mich neben Yngve, direkt vor Vater. Seine Wangen waren rötlich, gesättigt mit Blut. Es musste in den Poren zurückgeblieben sein, als sie es abzuwischen versuchten. Und seine Nase, sie war gebrochen. Aber obwohl ich dies sehen konnte, sah ich es trotzdem nicht, denn alle Details an ihm verschwanden in etwas Anderem und Größerem, sowohl in dem, was er ausstrahlte, dem Tod, dem ich nie zuvor so nahe gewesen war, als auch in dem, was er für mich war, ein Vater und allem, was an Leben darin lag.
    *
    Erst als ich zu Großmutters Haus zurückging, nachdem ich Yngve nach Stavanger verabschiedet hatte, fiel mir das mit dem Blut wieder ein. Wie mochte es dorthin gekommen sein? Großmutter hatte behauptet, sie habe ihn tot im Sessel gefunden, und angesichts dieser Information war es uns als das Naheliegendste erschienen, dass sein Herz versagt hatte, wahrscheinlich im Schlaf. Der Bestatter hatte dagegen nicht bloß von Blut, sondern von viel Blut gesprochen. Und seine Nase war gebrochen gewesen. Musste es nicht folglich irgendeine Form von Todeskampf gegeben haben? War er aufgestanden, unter Schmerzen, und gegen die Kaminmauer gefallen? Auf den Fußboden? Aber wenn es so gewesen war, warum gab es dann kein Blut auf dem Stein oder auf dem Fußboden? Und wieso hatte Großmutter nichts von dem Blut gesagt? Denn irgendetwas musste doch passiert sein, er konnte nicht still und ruhig eingeschlafen sein, nicht bei all dem Blut. Hatte sie es abgewaschen und anschließend vergessen? Warum sollte sie das getan haben? Nichts anderes hatte sie gewaschen oder verborgen, sie schien kein Bedürfnis danach verspürt zu haben. Ebenso merkwürdig war, dass ich es so schnell vergessen hatte. Vielleicht war das andererseits aber auch gar nicht so merkwürdig, denn es hatte so viel anderes gegeben, womit man sich auseinandersetzen musste. Wenn ich wieder bei Großmutter war, würde ich jedenfalls sofort Yngve anrufen. Wir mussten mit diesem Arzt sprechen, der Vater abgeholt hatte. Er würde uns erklären können, was passiert war.
    Ich ging so schnell ich konnte den sanften Anstieg hinauf, an einem grünen Maschendrahtzaun mit einer dichten Hecke dahinter vorbei, als liefe ich Gefahr, zu spät zu kommen, während gleichzeitig ein anderer Impuls in mir arbeitete, nämlich die Zeit, die ich für mich alleine hatte, tunlichst in die Länge zu ziehen, vielleicht sogar ein Café zu suchen und dort eine Zeitung oder etwas anderes zu lesen. Denn es war eine Sache, mit Yngve zusammen bei Großmutter zu sein, etwas ganz anderes jedoch, mit ihr allein zu sein. Yngve wusste einfach, wie er sie zu nehmen hatte. Doch dieser leichte, scherzhafte Ton, den auch Erling und Gunnar stets anschlugen, hatte mir gelinde gesagt nie gelegen, und in jenem Jahr auf dem Gymnasium, in dem ich viel Zeit bei ihnen verbracht hatte, weil ich ganz in ihrer Nähe wohnte, hatte es den Anschein, dass ihnen meine Art unangenehm war und ich etwas am mir hatte, von dem sie nichts wissen wollten, ein Gefühl, das sich nach einigen Monaten in gewisser Weise bestätigte, als Mutter mir eines Abends erzählte, Großmutter habe angerufen und gesagt, ich solle nicht mehr so oft zu ihnen kommen. Die meisten Zurückweisungen konnte ich verkraften, diese jedoch nicht, sie waren meine Großeltern, und dass selbst sie nichts von mir wissen wollten, war so erschütternd, dass ich die Beherrschung verlor und vor Mutters Augen in Tränen ausbrach. Sie wiederum war außer sich vor Wut, aber was konnte sie schon tun? Während ich es damals nicht verstand und glaubte, sie würden mich einfach nicht mögen, ahnte ich inzwischen, was ihr Unbehagen ausgelöst hatte. Ich war unfähig, mich zu verstellen, unfähig, in eine Rolle zu schlüpfen, und der gymnasiale Ernst, den ich in ihr Haus trug, ließ sich auf Dauer unmöglich auf Distanz halten, früher oder später mussten auch sie sich mit ihm auseinandersetzen, und das daraus resultierende Ungleichgewicht, da ihr Jargon mich zu absolut nichts zwang, musste schließlich dazu geführt haben, dass sie meine Mutter anriefen. Meine Anwesenheit forderte immer etwas von ihnen, entweder ganz konkret, zum Beispiel Essen, denn wenn ich nach der Schule und vor dem Training zu ihnen kam, hätte ich
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