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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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die Schiebetür öffnen und mir die Abendnachrichten im Fernsehen anschauen. Etwas Derartiges hatte ich nie zuvor getan, nicht einmal in Erwägung gezogen. Was mir nicht erlaubt war, machte ich nicht. Niemals. Nicht ein einziges Mal hatte ich etwas getan, was Vater mir verboten hatte. Jedenfalls nicht mit Absicht. Doch das hier war etwas anderes, weil es nicht um mich ging, sondern um sie. Ich hatte das Bild von dem Gesicht im Meer ja schon gesehen und musste es folglich nicht noch einmal sehen. Ich wollte nur herausfinden, ob sie dasselbe sahen wie ich.
    So lag ich da und überlegte in der Dunkelheit, während meine Augen die grünlichen Zeiger des Weckers verfolgten. Wenn es so still war wie jetzt, konnte ich die Autos hören, die unten auf der Hauptstraße vorbeifuhren. Eine akustische Schneise, die anfing, sobald sie beim B-Max, dem neuen Supermarkt, über die Hügelkuppe kamen, dann die Böschung bei Holtet hinunter weiterging, an der Einfahrt zu Gamle Tybakken vorbei und die Auffahrt zur Brücke hinaufführte, wo sie ebenso spurlos verschwand, wie sie eine halbe Minute zuvor aufgetaucht war.
    Neun Minuten vor elf ging die Tür des Hauses auf der anderen Straßenseite auf. Ich kniete im Bett und lugte aus dem Fenster. Es war Frau Gustavsen, sie lief mit einer Mülltüte in der Hand die Einfahrt hinunter. Welch seltener Anblick dies war, erkannte ich erst, als ich es sah. Frau Gustavsen zeigte sich nämlich praktisch nie außer Haus; man sah sie entweder im Haus oder auf dem Beifahrersitz ihres blauen Ford Taunus, aber obwohl ich dies gewusst hatte, war es mir vorher doch nie bewusst gewesen. Nun jedoch, als sie vor der Mülltonne stehen blieb und den Deckel öffnete, die Tüte hineinhob und die Tonne wieder zumachte, alles mit der leicht trägen Grazie, die so vielen dicken Frauen eigen ist, schoss es mir durch den Kopf. Sie hielt sich niemals im Freien auf.
    Die Straßenlaterne, die vor unserer Hecke stand, warf ihr hartes Licht auf sie, aber im Gegensatz zu den Dingen, von denen sie umgeben war – der Mülleimer, die weißen Wände des Wohnwagens, die Steinplatten, der Asphalt –, die das Licht ausnahmslos scharf und kalt reflektierten, war es, als modulierte und absorbierte ihre Gestalt es. Die nackten Arme glänzten schwach, der Stoff ihres weißen Pullovers schimmerte, die vollen, graubraunen Haare schienen fast golden zu sein.
    Sie blieb einen Moment stehen und schaute sich um, erst zu Prestbakmo hinüber, dann zu Hansens hinauf und anschließend zum Wald auf der anderen Straßenseite hinunter.
    Eine abwärts trippelnde Katze hielt inne und betrachtete sie einen Moment. Frau Gustavsen strich sich mit einer Hand mehrmals über den Arm. Dann wandte sie sich um und ging ins Haus.
    Ich warf nochmals einen Blick auf die Uhr. Vier Minuten vor elf. Ich fror ein wenig und überlegte kurz, ob ich einen Pullover anziehen sollte, kam jedoch zu dem Schluss, dass dadurch alles zu geplant aussehen würde, falls ich entdeckt werden sollte. Außerdem ging es ja nur um ein paar Minuten.
    Vorsichtig trat ich zur Tür und legte ein Ohr dagegen. Das einzige gravierende Risiko bestand darin, dass die Toilette diesseits der Schiebetür lag. Sobald ich an ihr stand, würde ich sie im Blick behalten und mich zurückziehen können, falls sie im Zimmer aufstünden, aber solange die Schiebetür geschlossen war, würde ich sie, wenn sie bereits unterwegs waren, zu spät entdecken.
    Aber dann konnte ich natürlich immer noch so tun, als wollte ich aufs Klo!
    Erleichtert über diese Lösung öffnete ich vorsichtig die Tür und trat aus dem Zimmer. Alles war still. Ich schlich mich durch den Flur, spürte den trockenen Teppichboden unter meinen schwitzenden Fußsohlen, blieb vor der Schiebetür stehen, hörte nichts, zog sie eine Spur zur Seite und lugte durch den Spalt hinein.
    Der Fernsehapparat stand in einer Ecke. Die beiden Ledersessel waren leer.
    Dann saßen sie also beide auf der Couch.
    Perfekt.
    Dann schwirrte der Erdball mit dem N-Zeichen über den Bildschirm. Ich betete zu Gott, dass sie dieselbe Reportage zeigen würden, damit Mutter und Vater sehen konnten, was ich gesehen hatte.
    Der Nachrichtensprecher berichtete gleich zu Anfang der Sendung über den vermissten Fischkutter, und mein Herz schlug schnell. Aber die anschließende Reportage war eine andere: Statt der Bilder von einem unberührten Meer kamen Bilder von einem Polizisten, der auf einem Anleger interviewt wurde, gefolgt von einer Frau mit einem kleinen Kind
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