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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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schob ein wenig von der Tomatenmasse zur Kruste am Ende der Scheibe, steckte die Schwänze in die Mitte dieses Haufens und klappte die Rinde gleichzeitig um sie herum. Auf die Art konnte ich mehrmals kauen, ohne mit den Schwänzen in Berührung zu kommen, und das Ganze anschließend mit Milch hinunterspülen. Wenn Vater nicht dabei war, wie an diesem Abend, bestand natürlich auch die Möglichkeit, die kleinen Schwänze einfach in die Hosentasche zu bugsieren.
    Yngve runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als ich das machte. Dann grinste er. Ich grinste auch.
    Im Wohnzimmer bewegte sich Vater im Sessel. Es raschelte kaum hörbar in einer Streichholzschachtel; im nächsten Moment ertönten das kurze Ratschen des Schwefelkopfs, der über die Reibefläche gezogen wurde, und das zischende Geräusch, als das Streichholz aufflammte, das in die nachfolgende Stille der Flamme quasi hineinfiel. Als einige Sekunden später der Zigarettengeruch in die Küche sickerte, lehnte Yngve sich vor und öffnete, so leise er nur konnte, das Fenster. Die Laute, die aus der Dunkelheit hereintrieben, veränderten die gesamte Atmosphäre in der Küche. Plötzlich war sie ein Teil der Landschaft vor dem Haus. Wir sitzen hier wie im obersten Rang , dachte ich. Bei dem Gedanken sträubten sich die Haare auf meinen Unterarmen. Der Wind strich säuselnd durch den Wald, wehte raschelnd über die Sträucher und Bäume auf dem Rasen unter uns. Von der Kreuzung drangen die Stimmen der Jugendlichen zu uns herein, die immer noch über ihren Fahrrädern hingen und sich unterhielten. Auf der Auffahrt zur Brücke schaltete ein Motorrad. Und in der Ferne, wie über alles andere erhoben, hing das Wummern eines Schiffs, das vom Sund hereinkam.
    Er hatte mich natürlich gehört ! Meine Schritte, als ich über den Kies lief!
    »Wollen wir tauschen?«, sagte Yngve leise und zeigte auf die Scheibe mit Kümmelkäse.
    »Können wir machen«, erwiderte ich. Ermuntert davon, das Rätsel gelöst zu haben, spülte ich den letzten Bissen der Sardinenscheibe mit einem winzigen Schluck Milch hinunter und ging zu dem Brot über, das Yngve auf meinen Teller gelegt hatte. Es war wichtig, die Milch zu dosieren, denn wenn man zur letzten Scheibe kam und keine mehr hatte, war es fast unmöglich, das Ganze hinunterzubekommen. Am besten war natürlich, sich ein bisschen was aufzusparen, bis alle Scheiben gegessen waren, denn nie schmeckte die Milch so gut wie in diesem Moment, wenn sie keine Funktion mehr erfüllen musste, sondern ganz für sich genommen die Kehle hinunterlief, rein und unverfälscht, was mir jedoch leider praktisch nie gelang; das momentane Bedürfnisse überwog stets die Verheißungen der Zukunft, ganz gleich, wie verlockend sie auch erscheinen mochten.
    Yngve schaffte es dagegen. Er war ein Meister im Aufsparen.
    Oben bei Prestbakmo schlug jemand seine Stiefelabsätze gegen die Türschwelle. Dann durchschnitten drei kurze Rufe den Abend.
    Geir! – Geir! – Geir!
    Die Antwort kam von dem Hof vor dem Haus, in dem John Beck wohnte, exakt so verzögert, dass jeder, der sie hörte, begreifen musste, dass er es sich erst einen Moment überlegt hatte.
    Ja-ha! , rief er.
    Unmittelbar darauf hörte man seine schnellen Schritte vor dem Haus. Als sie die Mauer zu Gustavsens Grundstück erreichten, stand Vater im Wohnzimmer auf. Irgendetwas an der Art daran ließ mich den Kopf einziehen. Auch Yngve zog den Kopf ein. Vater kam in die Küche, ging zum Tisch, lehnte sich wortlos vor und schloss das Fenster mit einem Knall.
    »Bei uns bleibt das Fenster abends geschlossen«, erklärte er.
    Yngve nickte.
    Vater sah uns an.
    »Jetzt seht zu, dass ihr fertig werdet«, sagte er.
    Erst als er sich im Wohnzimmer wieder hinsetzte, begegnete ich Yngves Blick.
    »Ha, ha«, flüsterte ich.
    »Ha, ha?«, entgegnete er flüsternd. »Dich hat er genauso gemeint.«
    Er hatte fast zwei Brote Vorsprung und konnte kurz darauf aufstehen und in sein Zimmer verschwinden, während ich noch ein paar Minuten kauend sitzen bleiben musste. Ich hatte vorgehabt, nach dem Abendessen zu Vater hinüberzugehen und ihm zu sagen, dass sie in den Abendnachrichten bestimmt den Bericht mit dem Gesicht im Meer senden würden, aber unter den gegebenen Umständen würde es sicher besser sein, darauf zu verzichten.
    Oder nicht?
    Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Wenn ich die Küche verließ, lugte ich immer kurz ins Wohnzimmer hinein und wünschte ihm eine gute Nacht. War seine Stimme dann
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