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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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es Vaters schwere Schritte, die dort unten über den Fußboden gingen. Die Stiefel hatte er sich wie immer vor dem Haus ausgezogen, und nun war er auf dem Weg in die Waschküche, um sich dort umzuziehen.
    »Ich habe in den Nachrichten ein Gesicht im Meer gesehen«, sagte ich. »Hast du was davon gehört? Weißt du, ob andere es auch gesehen haben?«
    Yngve sah mich halb fragend, halb abweisend an.
    »Was laberst du da?«
    »Das Fischerboot, das gesunken ist?«
    Er nickte kaum merklich.
    »Als sie in den Nachrichten die Stelle gezeigt haben, an der es gesunken ist, habe ich im Meer ein Gesicht gesehen.«
    »Eine Leiche?«
    »Nein. Es war kein echtes Gesicht. Es war das Meer, das eine Art Bild von einem Gesicht gemacht hat.«
    Einen Moment lang sah er mich wortlos an. Dann kreiselte sein Zeigefinger an der Schläfe.
    »Du glaubst mir nicht?«, sagte ich. »Es ist wirklich wahr.«
    »Die Wahrheit ist, dass du eine Null bist.«
    Als Vater unten im selben Augenblick Wasser laufen ließ, dachte ich, dass es das Beste sein würde, jetzt in mein Zimmer zu gehen, um nicht Gefahr zu laufen, ihm im Flur zu begegnen. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass Yngve das letzte Wort behielt.
    »Du bist hier die Null«, sagte ich.
    Er machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten. Drehte sich nur um, schob den Oberkiefer vor und blies zwischen den Zähnen Luft ein und aus wie ein Kaninchen. Die Pantomime spielte auf meine vorstehenden Zähne an. Ich wandte mich ab und beeilte mich, aus dem Zimmer zu kommen, bevor er sehen konnte, dass mir die Tränen kamen. Solange ich alleine war, machte es mir nichts aus zu weinen. Und diesmal war es ja auch gutgegangen, oder? Er hatte es doch nicht etwa gesehen?
    Ich blieb hinter meiner Zimmertür stehen und überlegte einen Moment, ob ich ins Badezimmer gehen sollte. Dort konnte ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser waschen und die Spuren entfernen. Aber Vater war bereits auf der Treppe auf dem Weg nach oben, so dass ich mich darauf beschränkte, meine Augen mit dem Ärmel des Sweaters trocken zu wischen. Die dünne Schmiere, die der trockene Stoff über die Oberfläche des Auges zog, ließ die Flächen und Farben des Raums ineinander verschwimmen, als wäre er plötzlich gesunken und befände sich nunmehr unter Wasser, und diese Vorstellung war so verlockend, dass ich die Arme hob, einige Schwimmzüge machte und langsam zum Schreibtisch ging. In Gedanken trug ich einen metallenen Helm aus den Anfängen des Tauchens, als sie noch in Schuhen mit Bleisohlen und dicken elefantenhautartigen Anzügen über den Meeresgrund gingen − an einem Luftschlauch hängend, der am Kopf wie eine Art Schnabel befestigt war. Ich atmete leise zischend durch den Mund und stapfte eine Weile mit den schwerfälligen und trägen Bewegungen der Taucher früherer Zeiten umher, bis das Grauen, das mit dieser Vorstellung verbunden war, langsam in mich einsickerte wie kaltes Wasser.
    Ein paar Monate zuvor hatte ich die Fernsehserie Die geheimnisvolle Insel nach dem gleichnamigen Roman von Jules Verne gesehen, und die Geschichte von den Männern, die mit einem Ballon auf einer verlassenen Insel im Atlantik strandeten, hatte vom ersten Bild an einen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Alles war spannungsgeladen gewesen. Der Ballon, der Sturm, die Männer in ihrer Kleidung aus dem 19. Jahrhundert, die raue, unfruchtbare Insel, auf der sie gelandet waren, die wahrscheinlich doch nicht so verlassen war, wie sie glaubten, denn laufend geschahen um sie herum mysteriöse und unerklärliche Dinge … Aber wer waren die anderen, die sich dort aufhielten? Die Antwort kam unvermittelt am Ende einer Folge. Jemand hielt sich in den Unterwasserhöhlen auf … menschenähnliche Geschöpfe … im Lichtschein der Laternen, die sie trugen, sah man flüchtig glatte, mit Masken bekleidete Köpfe … Warzen … sie ähnelten einer Art Echsen, gingen jedoch aufrecht … und auf dem Rücken trugen sie Behälter … einer von ihnen drehte sich um, er hatte keine Augen …
    Ich schrie nicht, als ich es sah, aber die Angst, mit der die Bilder mich erfüllten, ließ sich nicht abschütteln; selbst mitten am helllichten Tag übermannte mich das Grauen, wenn ich an die Froschmänner in der Höhle dachte. Und jetzt waren meine Gedanken dabei, mich in einen von ihnen zu verwandeln. Mein Zischen wurde zu ihrem Zischen, die Schritte zu ihren Schritten, die Arme zu ihren Armen, und als ich die Augen schloss, waren es ihre augenlosen Gesichter, die
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