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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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so klar wie am Tag unseres Todes. Sicher, Äderchen können in ihnen platzen, sicher, der Augapfel kann trüber werden, aber das Licht in ihnen verändert sich nie. Es gibt ein Gemälde, das ich mir jedes Mal ansehe, wenn ich in London bin, und das mich jedes Mal aufs Neue anrührt. Es ist ein Selbstporträt des späten Rembrandt. Die Bilder des späten Rembrandt sind normalerweise von fast schon unerhörter Grobheit, in ihnen ist alles dem Ausdruck des einen Augenblicks unterworfen, schimmernd und heilig zugleich, bis heute unübertroffen in der Kunst – eventuell mit Ausnahme dessen, was Hölderlin in seiner späten Dichtung erreicht, so wenig sich beides vergleichen lässt, denn wo Hölderlins Licht, heraufbeschworen in der Sprache, ätherisch und himmlisch ist, da ist Rembrandts Licht, heraufbeschworen in der Farbe, das der Erde, des Metalls, der Materie – aber dieses eine Bild in der National Gallery ist einen Hauch klassisch realistischer und wirklichkeitsnäher gemalt, steht dem Ausdruck des jungen Rembrandt näher. Was das Bild jedoch darstellt, ist der Alte. Es ist das Alter. Alle Details seines Gesichts sind zu erkennen, alle Spuren, die das Leben darin hinterlassen hat, lassen sich verfolgen. Es ist zerfurcht, faltig, aufgedunsen, von der Zeit gezeichnet. Doch die Augen sind klar, wenn auch nicht jung, so doch außerhalb der Zeit stehend, die dieses Gesicht ansonsten prägt. Es ist, als sähe uns, von einem Ort im Inneren des Gesichts, ein anderer Ort an, an dem alles anders ist. Näher an eine andere menschliche Seele heranzukommen, dürfte schwerlich möglich sein. Denn alles, was Rembrandts Person betrifft, seine Gewohnheiten und schlechten Angewohnheiten, seine Körperausdünstungen und Körpergeräusche, seine Stimme und seine Wortwahl, seine Gedanken und Sätze, seine Verhaltensweise, die Schwächen und Gebrechen seines Körpers, all das, was einen Menschen in den Augen anderer ausmacht, ist weggefallen, das Bild ist über vierhundert Jahre alt, und Rembrandt starb in dem Jahr, in dem es gemalt wurde, und was hier folglich abgebildet worden ist, was Rembrandt gemalt hat, ist das Dasein dieses Menschen, zu dem er jeden Morgen erwacht, und das sofort Besitz ergreift von den Gedanken, ohne selbst Gedanke zu sein, das sofort Besitz ergreift von den Gefühlen, selbst jedoch kein Gefühl ist, und aus dem man Abend für Abend entschlummert, am Ende für immer. Das im Menschen, was die Zeit nicht anrührt und woher das Licht in den Augen kommt. Der Unterschied zwischen diesem und den anderen Gemälden des späten Rembrandt ist der Unterschied zwischen sehen und gesehen werden. Will sagen, in diesem Bild sieht er sich selbst sehen, während er selbst gesehen wird, und nur im Barock, mit seiner Vorliebe für Spiegel im Spiegel, play within the play, für Inszenierungen und den Glauben an den Zusammenhang aller Dinge, in dem das handwerkliche Geschick zudem auf ein Niveau gehoben wurde, das keiner vorher oder nachher jemals wieder erreichen sollte, war ein solches Bild möglich. Aber es ist unsere Zeit, in der es existiert, wir sind es, für die es sieht.
    *
    In jener Nacht, in der Vanja geboren wurde, lag sie da und sah uns stundenlang an. Ihre Augen waren wie zwei schwarze Laternen. Ihr Körper war blutverschmiert, die langen Haare klebten am Kopf, und wenn sie sich rührte, geschah es mit den bedächtigen Bewegungen eines Kriechtiers. Als sie so auf Lindas Bauch lag und uns anstarrte, sah sie aus wie etwas aus dem Wald. Wir konnten von ihr und ihrem Blick einfach nicht lassen. Aber was lag in ihm? Ruhe, Ernst, Dunkelheit. Ich streckte die Zunge heraus, es verging eine Minute, dann streckte sie ihre Zunge heraus. Nie hat es so viel Zukunft in meinem Leben gegeben wie damals, nie so viel Freude. Inzwischen ist sie vier, und alles ist anders. Ihre Augen sind hellwach, füllen sich ebenso schnell mit Eifersucht wie mit Freude, mit Trauer wie mit Wut, sie ist bereits in die Welt getrieben worden und kann so frech werden, dass ich völlig die Beherrschung verliere und sie anbrülle oder schüttele, bis sie in Tränen ausbricht. Oft lacht sie jedoch auch nur. Als es zuletzt so war und ich so wütend wurde, dass ich sie rüttelte und sie bloß lachte, hatte ich eine Eingebung und legte eine Hand auf ihre Brust.
    Ihr Herz hämmerte. Oh, wie es hämmerte.
    *
    Es ist ein paar Minuten nach acht Uhr morgens. Es ist der 4. März 2008. Ich sitze in meinem Büro, vom Boden bis zur Decke von Büchern umgeben, und höre
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