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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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die schwedische Band Dungen, während ich daran denke, was ich geschrieben habe und wohin es führen wird. Linda und John liegen im Nebenzimmer und schlafen, Vanja und Heidi sind im Kindergarten, wo ich sie vor einer halben Stunde abgeliefert habe. Am riesigen Hotel Hilton, das noch im Schatten liegt, gleiten die Aufzüge in ihren drei Glasschächten an der Fassade pausenlos auf und ab. Daneben steht ein rotes Backsteingebäude, das allen Erkern, Bögen und Schnörkeln nach zu urteilen Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut worden sein muss. Hinter diesem sieht man wiederum eine kleine Ecke des Magistratparks mit seinen kahlen Bäumen und dem grünen Gras, wo ein grau verputztes Haus mit Siebzigerjahreausstrahlung die Aussicht beendet und den Blick gen Himmel zwingt, der zum ersten Mal seit Wochen klar und blau ist.
    Da ich hier seit anderthalb Jahren wohne, kenne ich diese Aussicht und all ihre Facetten von Tag zu Tag und im Jahresverlauf, aber verbunden fühle ich mich ihr nicht. Nichts von all dem, was ich hier sehe, bedeutet mir etwas. Vielleicht habe ich es genau darauf angelegt, denn diese Unverbundenheit ist etwas, was mir gefällt, was ich möglicherweise sogar brauche, eine bewusste Entscheidung ist es dagegen nicht gewesen. Vor sechs Jahren schrieb ich in Bergen, und obwohl ich keineswegs die Absicht hegte, mein ganzes Leben in dieser Stadt zu verbringen, hatte ich doch auch keine Pläne, das Land oder die Frau zu verlassen, mit der ich damals verheiratet war. Im Gegenteil, uns schwebte vor, dass wir Kinder bekommen und vielleicht nach Oslo ziehen könnten, wo ich neue Romane schreiben und sie weiter für Rundfunk und Fernsehen arbeiten würde. Aber aus dieser Zukunft, die im Grunde nichts anderes war als eine Fortführung unserer damaligen Gegenwart mit ihrem Alltag und ihren Abendessen mit Freunden und Bekannten, ihren Urlaubsreisen und Besuchen bei Eltern und Schwiegereltern, alles bereichert von den Kindern, die wir uns vorstellten, wurde nichts. Es passierte etwas, und von einem Tag auf den anderen ging ich nach Stockholm, anfangs nur, um ein paar Wochen fortzukommen, und dann wurde daraus auf einmal mein Leben. Nicht nur die Stadt und das Land wurden darin ausgetauscht, sondern auch alle Menschen. Es mag seltsam erscheinen, dass ich dies tat, noch seltsamer ist jedoch, dass ich so gut wie nie darüber nachdenke. Wie bin ich hier gelandet? Warum haben sich die Dinge so entwickelt?
    Als ich nach Stockholm kam, kannte ich dort zwei Menschen und keinen von beiden gut: Geir, dem ich während einiger Wochen im Frühjahr 1990 in Bergen begegnet war, also zwölf Jahre zuvor, und Linda, die ich auf einem Seminar für junge Literaten, die ihr erstes Buch veröffentlicht hatten, auf Biskops-Arnö an ein paar Tagen im Frühjahr 1999 kennen gelernt hatte. Ich schrieb Geir eine Mail und fragte ihn, ob ich bei ihm übernachten könne, bis ich eine eigene Bleibe gefunden hatte, das ließ sich machen, und einmal dort angekommen gab ich Wohnungsanzeigen in zwei schwedischen Tageszeitungen auf. Ich bekam über vierzig Zuschriften, aus denen ich zwei auswählte. Die eine Wohnung lag in der Bastugatan, die andere in der Brännkyrkagatan, beide im Stadtteil Södermalm. Nachdem ich sie besichtigt hatte, entschied ich mich für Letztere, bis ich im Treppenhaus den Blick über die Tafel mit der Liste der Hausbewohner schweifen ließ, auf der ich Lindas Namen fand. Wie groß standen die Chancen für so etwas? Es leben eineinhalb Millionen Menschen in Stockholm. Hätte ich die Wohnung durch die Vermittlung von Freunden und Bekannten gefunden, wäre der Zufall nicht ganz so groß gewesen, denn alle literarischen Milieus sind, unabhängig von der Größe der Stadt, relativ klein, doch dies hatte sich auf Grund einer anonymen Zeitungsannonce ergeben, die von mehreren Hunderttausend gelesen wurde, und die Frau, die sich auf die Anzeige hin gemeldet hatte, kannte natürlich weder Linda noch mich. Ich überlegte es mir augenblicklich anders, es war besser, die andere Wohnung zu nehmen, denn wenn ich in diese einzog, würde Linda womöglich denken, dass ich sie verfolgte. Ein Zeichen war es trotzdem. Und Bedeutung erlangte es, denn heute bin ich mit Linda verheiratet, und sie ist die Mutter meiner drei Kinder. Nun teile ich mein Leben mit ihr. Die einzige Spur meines früheren sind die Bücher und Platten, die ich mitnahm. Alles andere ließ ich zurück. Und während ich damals viel Zeit damit verbrachte, an die
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