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Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Titel: Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Autoren: Holly-Jane Rahlens
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könnte es schmutzig machen und würde dann am Abend beim Empfang wie ein Schmuddelkind aussehen. Und Josephine befürchtete, der fast hundert Jahre alte Stoff könnte kaputtgehen, wenn Stella nicht aufpasste.

    Stella schaute auf die Uhr. Der kleine Zeiger stand auf der Elf, der große auf der Vier. Bei ihrer Ankunft hatte der kleine Zeiger auf der Neun gestanden, und der große war gerade auf die Zwölf gerutscht. Sie wandte sich ihrer Mutter zu. «Du hast gesagt, es dauert nur zwei Stunden», flüsterte sie vorwurfsvoll.
    Ein paar Köpfe drehten sich um. Ihre Großtante Gesa, ein kleiner Spatz von einer Frau, lächelte ihr freundlich zu und legte dann einen knochigen Finger auf die Lip-pen.
    Stella fühlte sich zurechtgewiesen. Sie verlagerte ihr Gewicht und suchte eine bequemere Sitzstellung auf der harten Holzbank. Gesa war nett und hatte ihr am Abend zuvor sogar einen Zehndollarschein in die Jeanstasche gesteckt, aber sie roch komisch – wie die alten Frauen im Aufenthaltsraum des Krankenhauses, wo sie mit ihrer Oma Elisabeth Brunnen besucht hatte.
    Stellas Mutter beugte sich zu ihr. «Nach dem
Kiddusch
machst du ein Nickerchen», sagte sie mit ihrer ruhigen «Mamastimme», die meist nur Ärger versprach. «Sonst stehst du den Abend nicht durch. Du willst doch heute Abend zu der Feier gehen, oder?»
    Was dachte ihre Mutter sich eigentlich? Warum um alles in der Welt sollte Stella ein Nickerchen machen? Sie war fünf und hatte seit ihrem dritten Lebensjahr nachmittags nicht mehr geschlafen! Außerdem war sie nicht müde. Sie langweilte sich nur. Die Langeweile hatte anscheinend sogar ihre Gehirnzellen angeknabbert, denn sie wusste nicht mehr, was ein
Kiddusch
war. Ihre Mutter hatte es ihr am Tag zuvor auf der Busfahrt vom Flughafen nach Manhattan erklärt. Es war Spätnachmittag gewesen, und die Sonne ging gerade unter. Die Wolkenkratzer auf der anderen Flussseite in Manhattan waren in silbrig purpurrotes Licht getaucht, und der Anblick hatte Stella so fasziniert, dass sie der Erklärung ihrer Mutter nur halb zuhörte.
    Stella drehte sich zu Marco, der an seiner Krawatte zog und sie lockerte. Er sah komisch aus in seinem dunklen Anzug mit der Krawatte, fand Stella. Wie die Puppe eines Bauchredners. «Was ist
Kiddusch
noch mal?», fragte sie ihn so leise wie möglich.
    «Das Essen», flüsterte Marco zurück.
    Jetzt erinnerte sie sich wieder. Nach dem Sabbat-Gottesdienst wurden Erfrischungen gereicht. Der Bar-Mizwa-Junge liest aus der Thora, singt auf Hebräisch, hält seine Rede, wird zum Mann erklärt und gilt von da an als neues, erwachsenes Mitglied der Gemeinde – und dann rufen alle im Raum
Masel tow
, und kurz darauf ist der Gottesdienst vorbei. Und dann begann der
Kiddusch
.
    Aber sie hatten schon vor mindestens zwanzig Minuten
Masel tow
gesagt. Was dauerte nur so lange?
    Isabel reichte Stella einen Streifen zuckerfreien Kaugummis. «Vielleicht hält dich das wach. Etwas Süßes.»
    «Niemand ist müde!», zischte Stella, nahm den Kaugummi aber trotzdem und kaute darauf herum. Der plötzliche Minzeschwall tat gut. Sie schloss genussvoll die Augen und spürte das in den Raum fallende Sonnenlicht auf ihrem Gesicht. Sie schaute zu den Fenstern, konnte aber nicht nach draußen sehen, weil sie zu hoch waren. Als sie die Augen wieder schloss, sah sie goldene Sternchen. Der Rabbi redete jetzt auf Englisch zu der Gemeinde. Eine Mrs. Wasserburg war gestorben. Soso. Stella spielte mit dem Verschluss ihrer blauen Satinhandtasche made in Hongkong. Auf-zu-auf-zu. Wieder schloss sie die Augen …
    Marco stupste sie. «Du bist wieder eingeschlafen.»
    Stella wollte schon protestieren, doch im selben Moment sprang die ganze Gemeinde auf. Der Gottesdienst war vorbei! Alle gaben sich jetzt die Hand, wünschten ihren Nachbarn einen friedlichen Sabbat,
Schabbat Schalom
, und strömten dann zum Nebenraum, wo winzig kleine Plastikbecher mit Wein für die Erwachsenen und rotem Traubensaft für die Kinder verteilt wurden. Für Stella sahen die kleinen Becher aus wie die Deckel auf Hustensaftflaschen, mit denen der Saft abgemessen wurde. Und das Getränk schmeckte auch so. «Kotz», sagte Marco. «Ich brauche Cola.» Er marschierte schnurstracks auf den Tisch mit den Getränken zu.
    Stella schaute sich um und sah, wie der Bar-Mizwa-Junge, ihr Cousin Ben, Briefumschläge in seine Tasche stopfte. «Geld», flüsterte ihre Cousine Shawna aus Kalifornien und zeigte in Richtung Ben. «Geschenke zur Bar Mizwa.»
    Stella
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