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Stein der Dämonen

Stein der Dämonen

Titel: Stein der Dämonen
Autoren: Hubert Haensel
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verschwand dann polternd in der dunkel gähnenden Tiefe.
    Von unten herauf erscholl der Schrei eines Menschen. Furcht und unsagbares Grauen drückten sich darin aus.
    Als Tochter eines Fischers hatte Mistra viele sterben sehen, Gefangene, die irgendwann in die Hände der Heymals gefallen waren, aber auch Freiwillige, welche die Not dazu zwang, sich anzubieten, in die Schrecken der Korallen hinab zu tauchen, um im Ausgleich dafür mit der Familie einen Winter lang unbeschwert und sorgenfrei leben zu können. Wenn sie nicht mit ihrem Leben dafür bezahlten.
    Dennoch wuchs die Gier nach den Schwarzperlen und all dem anderen, was dieses junge Gebirge im Süden von Salamos – viele nannten es eine Bastion der Schattenzone und mochten damit recht haben – hervorbrachte.
    Ein erneuter heftiger Stoß warf Mistra beinahe von den Füßen. Doch sie fand Halt an einem der straff gespannten Taue und klammerte sich daran fest. Nur wenige Schritte von ihr entfernt wuchs urplötzlich eine Felssäule in die Höhe. Deutlich waren die bizarren Äste zu erkennen, die sich eng aneinanderdrängten, in Windeseile verhärteten und dann der Brücke zuneigten.
    Mistra wollte fliehen, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Aus angstvoll aufgerissenen Augen sah sie den Steinen entgegen.
    Indes verfehlten die Korallen das Mädchen um mehr als eine Armlänge. Faustgroße Brocken schlugen auf die mühsam festgezurrten Bretter und hinterließen brüchiges, verkohlt wirkendes Holz. Aber da waren keine Flammen, die überraschend aufzüngelten und die Brücke in ein Feuermeer verwandelten, wie dies hin und wieder geschah.
    Mistras Erleichterung löste sich in einem lauten Schluchzen. Doch wieder erzitterte das Bauwerk zwischen den Felsen.
    »Komm her!«
    Rochads Stimme klang hart und befehlsgewohnt. Selbst Mistra, die Freude seines Herzens und zugleich einzige Tochter, war gegen seine Launen nicht gefeit. Oft genug hatte er sie schon gezwungen, nur an einem dünnen Seil hängend, in die Schluchten hinab zu tauchen. Weil er einer der Fischer war, die mit menschlichen Ködern die Schätze des Bösen an sich zu reißen versuchten, musste auch sie ihr Leben einsetzen. Manchmal hasste sie ihn dafür, und es gab Zeiten, in denen sie lieber tot gewesen wäre. Sie hatte schon viele der Riesenschnecken gesehen, hatte ihren stinkenden Atem verspürt, der die Haut vergiftete.
    Rochad hielt ihr das Seil entgegen, an dem sie den Fremden aus dem Norden hinabgelassen hatten. Es war zerschlissen. Der Fischer funkelte Mistra wütend an. Es war nicht der Tod eines einzelnen Menschen, der ihn und die anderen berührte, sondern der Verlust erhoffter Schätze, die der Krieger hatte bergen sollen. »Du wirst an seiner Stelle hinabsteigen, Spross meiner Lenden!«
    Ein Widerspruch war unmöglich, denn das hätte für Mistra bedeutet, dass Rochad sie verstieß und sie damit zur leichten Beute der Burschen machte, die ihr nachstellten.
    Deshalb verbarg sie auch ihre zarten Brüste hinter einem enganliegenden Tuch und betonte ihre knabenhafte Figur, wo es nur möglich war. Sie hatte herausgefunden, dass es vor allem die üppigen Formen waren, denen die Männer Beachtung schenkten. Doch bisher hatte Rochad stets seinen schützenden Arm über sie gehalten. Vielleicht weil er Angst davor hatte, sie würde eines Tages schwanger werden. Denn dann konnte er sie für viele Monde nicht mehr in die Tiefe schicken.
    Ich verabscheue sie alle, dachte Mistra, während sie auf ihren Vater zuging. Ich hasse diese Berge, dieses ganze Leben. Sollte sie hinabspringen, um allem ein Ende zu setzen? Gewiss würde sie nicht viel spüren.
    Ihre Hände verkrampften sich um das Tau. Es bedurfte nur einer geringen Anstrengung, und der Abgrund lag vor ihr – ein winziger Ruck, den dann niemand mehr rückgängig machen konnte.
    Mistras Blick schweifte ab. Ihr Vater hielt noch immer das Seil in seinen Händen, und die anderen musterten sie mit unverhohlenem Interesse. Ihre Blicke brannten wie Feuer auf ihrer Haut.
    Von irgendwoher erklangen die schrillen Laute einer Riesenschnecke. Die Bestie schien sogar in der Nähe zu sein. War da nicht eine Bewegung, dort, wo die Schatten der sich dem Abend zuneigenden Sonne eins wurden?
    Das Ungewisse Licht machte es schwer, Einzelheiten zu erkennen. Zu dieser Stunde schien es, als bargen die Felsen geheimnisvolles, unwirkliches Leben, das den Tag scheute und erst dann aus seinen Verstecken hervorbrach, wenn die Dämmerung über dem Land lag.
    Jeder Stein, jeder
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