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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Autoren: Stefan Zweig
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Richter müßte sie einer reinen Auswahl entziehen. Aber doch, wie dieses Blatt der »großen Konfession« ausscheiden, wo mit einem Riß Wesen und Ursprung seiner körperlich-geistigen Struktur scharf und unvergeßlich gezeichnet sind? Und so fanden sich wiederum andere Verse, in sich selbst nicht farbenkräftig genug, die besondere Leuchtkraft hatten durch den Widerschein von Gestalten und Situationen, manche Gedichte an Charlotte v. Stein, Lili und Friederike, mehr Briefblatt als Gedicht, mehr Seufzer und Gruß denn Kunstwerk, aber doch unentbehrlich dem biographischen Gesamtbild. Und bald erwies sich mir, daß die äußerste Strenge des ästhetischen Urteils da ein wunderbar Durchnervtes zerreißen würde, daß eine sich starr und unnachsichtig bloß auf den Kunstwert hin richtende Auswahl Lyrik und Leben, Anlaß und Aussage, Kunstwerk und Biographie gerade bei jenem Menschen zertrennen müßte, dessen wunderbar aufgestufte und organische Menscheneinheit wir ebensosehr als Kunstwerk empfinden wie die Kunst selbst. So wurde hier in weitherzigerer Auslese vielfach über die Ordnung des Stils als höheres Maß jene Norm gesetzt, die wir noch immer als höchste Ordnung eines irdischen Wesens innerhalb aller Zeiten empfinden: das Leben Goethes als schaffendes Geheimnis.
     
    Nicht nur aber die Auswahl selbst, auch die Anordnung der Gedichte wurde dann von dieser endgültigen Überzeugung bestimmt, daß Werk und Leben bei Goethe eine untrennbare Ganzheit seien; sie ist eine chronologische und reiht die Gedichte (die meisterliche Arbeit Hans Gerhard Grafs nutzend) in der zeitlichen und darum natürlichen Folge ihrer Entstehung. Eine solche Einteilung hat scheinbar allerhöchste Autorität gegen sich, nämlich jene des Dichters selbst, der in seiner »Ausgabe letzter Hand« das lyrische Gesamtmaterial in metrische Kategorien ordnete, deren Überschriften »Natur«, »Kunst«, »Sonette«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« er allemal mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie Blumensträuße sind dort die Verse nach ihrer geistigen Farbe, nach ihrer metrischen Klassifizierung, nach ihrer Spezies sorgfältig zusammengebunden und das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. In unserer Einteilung wiederum ist versucht, die kunstvollen Blumensträuße neuerdings auseinanderzubinden und jedes einzelne Gedicht neu einzusenken an die Stelle seines zeitlichen und ursprünglichen Gewachsenseins, getreu Goethes Wort zu Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.« In diesen Grund – das Wort im Sinn des Anlasses und der erdhaft zeitlichen Gebundenheit wird durch diese chronologische Anordnung jedes Gedicht wieder zurückgepflanzt. Nicht nach ihrem Sein und Dasein, sondern in der Folge ihres Gewachsenseins schließen sich hier den Gedichten des Jünglings die der Mannesjahre und jenen wieder die großartig begrifflichen Allegorien der Altersjahre an. Damit wird, glaube ich, eine einzige Überschau über dies gewaltige lyrische Strömen gewonnen, vom ersten Ausbruch der Quelle bis zum getragen machtvollen Übermünden ins Unendliche, und jeder einzelne Anlaß, Bilder und Jahreszeiten, Menschen und Geschehnisse, erscheint in dieser fortfließenden Welle naturhaft gespiegelt. Nicht zufällig beginnt die Auswahl mit jenen stürmenden Jugendstrophen, wo der Hammer des Herzens die starren Formen der deutschen Lyrik zerschlägt, und endet nicht zufällig in jenem geheimnisvollen Verschweben des »Chorus mysticus«, mit dem der Uralte den ›Faust‹, das »Hauptgeschäft seines Lebens«, und damit sein Leben selbst in das Unendliche verrauschen läßt. Dazwischen entbreitet sich der ganze Wandel irdischer Fahrt, Sturm und Kühlung des Blutes, rhythmisches Lebendigwerden und marmornes Erstarren des Gedichtes in kristallenen Formen, hinjagende Begeisterung, die allmählich aufschwebt zu schauendem Bedacht – jene ganz hohe Verwandlung, mit der hier ein Mensch das Allmenschliche allen Zeiten vorbildlich gelebt. In solch schicksalhafter Form erscheint die Lyrik Goethes dann nicht bloß als untermalende Begleitmusik seines Lebens mehr, sondern als symphonische Umfassung des ganzen Daseins, tönend geworden in einer einzigen irdischen Brust und uns unvergänglich gegenwärtig durch die verewigende Magie der Kunst.

Gundolfs ›Kleist‹
    Besprechung über »Kleist« von Friedrich Gundolf,
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