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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Autoren: Stefan Zweig
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Durchschnittswissen eines Durchschnittsmenschen von heute, eines Buchdruckergehilfen, eines Volksschullehrers, eines Kraftwagenfahrers, eines kaufmännischen Angestellten, das absolute Tatsachenmaterial selbst eines griechischen Gelehrten war, der mit einem verhältnismäßig geringen Quantum an Fakten die kühnsten und genialsten Bindungen entwickelte. Darum war in jener Zeit Universalität für den denkenden Menschen noch Selbstverständlichkeit. Ein Geist vermochte alle Wissenschaften einheitlich schöpferisch zu umfassen; ein Gehirn die ganze damalige Weltsubstanz unablässig und innerlich gegenwärtig zu haben.
    Die ungeheuere Erweiterung der Welt hat erst das gedruckte Buch vollbracht, und wenn auch tausendmal festgestellt ist, daß die Erfindung des Drucks zweifellos das größte Geschehnis in der Geistentwicklung der Menschheit bedeutet, so ist vielleicht noch immer nicht die völlige Umformung geschildert, die die Denkart der Spezies Mensch durch diese scheinbar geringfügige technische Maßnahme erfahren hat. Und auch hier könnte nur die Statistik das Phantastische uns völlig zu Bewußtsein bringen, eine Statistik etwa, wieviel einzelne Druckzeichen bei einem einzigen modernen Menschen von heute von der Pupille gefaßt und in unbegreiflicher Umsetzung durch Nervenbahnen und Zellen zu Begriffen und logischen Feststellungen verwandelt werden. Milliardenzahlen und Billionen wären vielleicht zu gering, um die Gesamtsumme jener einzelnen Übermittlungen zu summieren, und ahnen zu lassen, welche geheimnisvolle Prägemaschine in dem halben Kilo Gallert, das wir Gehirn nennen, unablässig in Tätigkeit ist. Nur Statistik, eine ganz neuartige psychologische Statistik könnte uns zum eigenen Erschrecken begreiflich machen, etwa wieviel Namen von Orten, Menschen, Büchern, Pflanzen, Gegenständen oft in vierfach oder fünffach verschiedenen Vokabeln in unseren Hirnarchiven ruhen, deren jedes einzelne tausendmal mehr Einzelobjekte enthält als die größte Stadt Einwohner, als die umfassendste Bibliothek Bücher. Und erst ein Vergleich zu dem Weltbild der Früheren würde die ungeheure Erweiterung unseres geistigen Kosmos ehrfürchtig uns ahnen lassen.
    Selbstverständlich kann ein irdisches Gedächtnis trotz seiner Vervollkommnung und Anpassung eine solch unheimliche Fülle nicht dauernd bereit halten und noch weniger ordnen. Wir haben zweifellos unsere Kenntnisse nicht in dem Maße bereit, wie die Menschen der früheren Welt, die die Epen Homers, die Gesetzeslehren und die Geschichte auswendig wußten vom ersten bis zum letzten Wort. Darum haben wir, das Geschlecht der Organisatoren, unser Gedächtnis zum Teil außerhalb unseres eigenen Lebens gestellt und gleichsam neben der Handbibliothek, der ständig nahen und innerlichen, eine immense andere Weltbibliothek in den Büchern. Sie bewahren, wie Akkumulatoren, unendliche Ströme geistiger Kraft, die, übergeleitet, sofort in uns weiter wirken und neue Kräfte entzünden. Sie sind die Reserve, die unerschöpfbare, unseres Wissens, die wirklichen Bausteine für das ewig unvollendbare Denkmal unseres Weltbilds.
    Weil die Welt weit wird, drängt sie auf Abbreviatur, auf Verkürzung, und da wir nicht alles schauen und anschauen können, müssen wir uns schadlos halten an der gleichsam konzentrierten Anschauung unzähliger anderer in den Büchern. Für unsere eigene Ordnung arbeiten unzählige Vorordnungen wie die der Historiker, der Philologen, der Gelehrten, so daß wir Resultate übernehmen können, Durchschnitte und endgültige Feststellungen, und immer mehr, immer mehr benötigen wir für Ordnung und Überblick dieser vorordnenden Kräfte. Jeder Geistige unserer Zeit wirkt daran mit, der Dichter ebenso wie der Geograph, der Historiker wie der Philosoph und nicht zumindest der Verleger, dessen Aufgabe um so größer und schöpferischer wird, als sein Gesamtwerk selbst einen welthaften, einen universalischen Charakter annimmt. Enge Kreise zu ziehen, gelingt verhältnismäßig leicht, für die weiten aber sind weite Zeiträume vonnöten, ein einheitlicher schöpferischer Plan, ein geduldiges Durchführen, das sich mit dem Getanen nicht genug gibt, sondern den neuen Ansprüchen erweiterter Welt erneuerte und erweiterte Leistung ständig entgegenhält.
    Solche Unternehmungen sind selten, sie sind selten wie der universalische Mensch, wie der umfassende Geist, und selbst innerhalb Deutschlands haben wir wenige, die einem solch verwegenen Versuche sich gewidmet. Zu ihnen
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