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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Autoren: Stefan Zweig
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Wort kehrt nicht nur wieder, sondern – wunderbar! – mit einer anderen, noch unbekannten Melodie. Denn jede seiner Neugeburten, seiner Verwandlungen verwandelt auch seine innere Musik, an jeder Gärung des Blutes kühlt und keltert sich das Goethesche Gedicht zu neuem Arom – immer anders, immer dasselbe nach seinem eigenen Spruche: »Und so spalt’ ich mich, ihr Lieben, und bin immerfort der Eine.«
    Diese Ausdauer des lyrischen Geistes auf höchster Stufe der Steigerung und Spannkraft ist einzig bei diesem Dichter: die Weltliteratur hat nichts an Kontinuität wie an Intensität dieser Fülle zur Seite zu stellen. Nur ein anderer Trieb in ihm selbst ist gleich dauerhaft und jede wache Stunde bemeisternd: die Leidenschaft, das Geistige durch Gedanken zu binden, wie im Gedichte das Erlebte durch Formen. Beides sind Resultanten desselben Willens, das zugeteilte Leben in Gestalt und Gedanken zu verwandeln und die Summe des Lebens durch schaffende Ordnung zu erhöhen. Wie die Ströme des Paradieses aus dem gleichen Urgründe des Seins bis an die Enden der Welt, so rauschen diese beiden Ströme aus der Tiefe seiner Innerlichkeit seine ganze Existenz entlang: ihre Bindung und beharrliche Gleichzeitigkeit bildet das Geheimnis seiner Einzigkeit.
    Großartig darum alle Augenblicke, wo diese beiden Hauptmanifestationen seines Lebens, wo Goethe, der Dichter, und Goethe, der Denker, sich durchdringen, wo Geist und Gefühl sich vollkommen ineinander lösen. Berühren sich diese Welten hoch oben in ihren Wipfeln, so entstehen jene gewichtigen Gedichte orphischer Tönung, die sowohl zum höchsten Gedankenwerk der Menschheit als zu dem lyrischen Reiche gehören; berühren sie sich aber tief in den Wurzeln ihres Ursprunges, so formen sie die vollkommensten Bindungen von Sprache und Geist, ›Faust‹ oder ›Pandora‹, Gedichte über allen Gedichten: das Weltgedicht.
    Eine solche allseitige Ausbreitung der lyrischen Sphäre erfordert naturgemäß auch eine wahrhaft welthafte Fülle des lyrischen Ausdruckes. Goethe hat sie sich und uns innerhalb der deutschen Sprache erschaffen – fast möchte man sagen, aus dem Nichts. Der lyrische Fundus, den er von seinen Vorgängern übernimmt, ist abgenutzt, verstaubt, verblichen und nur eng auf bestimmte Trachten und Figuren der Dichtkunst zugeschnitten. Professoraldidaktisch sind die Stile des Gedichtes abgeteilt nach Anlaß und Herkunft – aus romanischer Sprachwelt hat die deutsche das Sonett sich geborgt, von der Antike den Hexameter und die Ode, von den Engländern die Ballade, und aus eigenem kaum mehr als die lockere Strophik des Volksliedes dazu gegeben. Goethe, der Strömende, dem Stoff und Form, Gehalt und Gefäß »Kern und Schale«, lebendige Einheit bedeuten, bemächtigt sich raschen Zugriffes all dieser Formen, füllt sie aus, ohne aber das Übermaß seines Ausbruches in ihnen ganz erfüllen zu können. Denn alles Eingeschränkte wird seiner schöpferischen Wandelbarkeit zu eng, alles Umschlossene zu kerkerhaft für den Überdrang seiner sprachlichen Gewalt. So entflieht er den gebundenen Formen ungeduldig in eine höhere Freiheit:
    »Zugemessene Rhythmen reizen freilich,
Das Talent erfreut sich wohl darin,
Doch wie schnelle widern sie, abscheulich
Hohle Masken, ohne Blut und Sinn.
Selbst der Geist erscheint sich nicht erfreulich,
Wenn er nicht, auf neue Form bedacht,
Jener toten Form ein Ende macht.«
    Diese »neue Form« des Goetheschen Gedichtes aber ist selbst wiederum keine einmalige, keine starr bestimmbare. Alle Formen aller Zeiten und Zonen zieht sein impulsiver Sprachdrang neugierig an sich, in jeder sich versuchend, an keiner sich genügend – vom hexametrischen Langzeiler bis zur kurzen, fast hüpfenden Form des Stabreimes, vom knorrigen Knüppelreim des Hans Sachsischen Gedichtes bis zum frei fließenden Pindarschen Hymnus, von der persischen Makame bis zum chinesischen Sinnspruch durchspielt und überspielt er alle bestehenden Metren mit seiner allumfassenden panischen Sprachgewalt. Und nicht genug daran, er schafft Hunderte neue Formen inmitten des deutschen Gedichtes, namenlose und unbenennbare, gesetzmäßige und nicht zu wiederholende, einzig nur ihm sich verdankende, deren souveräne Kühnheit auch unsere jüngste Generation nicht wesentlich übermessen hat. Manchmal fürchtet man fast, als hätten die siebzig Jahre seiner Dichtung schon die lyrische Formfähigkeit und Variation der deutschen Sprache zum Großteil erschöpft, denn so wie er wenig
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