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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Autoren: Stefan Zweig
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übernommen von dem früheren Geschlecht, so haben auch die Nachfahren dem lyrischen Ausdruck wenig Wesentliches dazugetan. Überragend einsam steht zwischen dem Vordem und Nachher seine unendliche Tat.
    Doch Mannigfalt der Formen, sie würde allein nicht genügen als Bürgschaft lyrischer Überlegenheit; weltbedeutend macht ja den Dichter immer erst nur seine Allgegenwart in jedem Werke, das wirkliche Wunder, daß innerhalb seiner Mannigfaltigkeit jede einzelne Form und jede Äußerung das unsichtbare Merkmal der Einheit und Neuheit eingezeichnet trägt, also in mystischer Weiterleitung und Vererbung gleiches Blut bis in die letzte Ader seines Verses eindringt. Dieses Zeichen königlichen Ursprunges, dieses Zeichen geistigen und sprachlichen Herrentums ist jedem Goetheschen Gedicht so deutlich aufgeprägt, daß wir durch allen Formenwandel hindurch unverweigerlich in jedem einzelnen ihn als einzig möglichen Schöpfer erkennen, ja mehr noch – daß die wahrhaft Wissenden an jedem Korn seiner lyrischen Ernte noch Jahrgang und Stunde prüferisch unterscheiden, daß man aus irgendeiner Intonation, aus einer sprachlichen Handlung, aus irgendeinem Inkommensurablen fast immer bestimmen kann, welchem Jahresring dieses einzelne Gedicht angehört, ob seiner Jugend, seinen klassischen Jahren oder der Spätzeit. So wie der Duktus in seiner Handschrift trotz aller Wandlungen vom zehnten Jahre bis zum achtzigsten durch alle Wandlungen unverkennbar bleibt und man unter Tausenden Schriftzügen aus einem einzelnen Worte Goethe als den Schreibenden erkennt, so vermag man aus jeder Prosaseite, aus jedem Vierzeiler fehllos Goethe als den Dichter anzusprechen. Der Makrokosmos, die Welt Goethes, ist sichtbar auch im Mikrokosmos, im kürzesten Gedicht.
    Doch freilich, so leicht es fällt, das spezifisch Goethesche in Goethes Lyrik zu erkennen, so schwer fiele es (auch einem dickleibigen Buch), dies ganz Persönliche seiner Gegenwart sachlich zu fixieren und begrifflich starr zu umschränken. Bei Hölderlin, Novalis, bei Schillers Lyrik bietet es wenig Schwierigkeiten, die besondere Physiognomie des Sprachstils nachzuzeichnen, ja sogar auf metrische und ästhetische Formeln zu bringen, weil bei diesen eine deutlich besondere Sprachfarbe vorwaltet, die Ideenwelt bestimmt-umgrenzte Kreise zieht und die Rhythmik an eine besondere Form des Temperaments dauernd gebunden erscheint. Bei Goethes Lyrik aber führt jeder Versuch einer Formulierung unverweigerlich ins Geschwätzige oder Metaphorische. Denn seine Sprachfarbe ist die des Spektrums, das immer voll strömende, sich in ewiger Mannigfalt verwandelnde Licht, eine Sprachsonne, wenn man das Bild wagen darf, nicht bloß ein abgeteilter Strahl. Seine Rhythmik wiederum gehorcht nicht Trochäen und Daktylen, also einer einmaligen Einstellung, sondern taktiert in nachfühlendem Leben jeden Schlag dem eigenen stürmischen oder ruhenden Atem nach. So erscheint sein lyrischer Ausdruck dermaßen natürlich, daß nur seine Natur selbst, die allumfassende, und nicht die Literatur ihn zu erklären vermag. Immer führt jede Untersuchung von Goethes Eigenart im Gedicht über das Sprachtümliche hinaus in das Elementare seiner Natur, in die Sinnlichkeit seines Welterlebens. Immer ist die letzte Erklärung seiner Einheitlichkeit nicht das Kunstwerk, das Es; immer nur das Schöpferische, das Beharrende in der Verwandlung, das Unteilbare: Er.
    Dieser »geheimnisvoll offenbaren« Einheit des Goetheschen Wesens steht paradoxerweise nichts mehr hemmend entgegen als seine eigene Fülle. Es ist schwer, Unendliches zu gliedern, ein Unüberschaubares zu umfassen, und wenn so viele Deutsche noch immer so wenig Eingang und Vertrautheit in Goethes Welt führt, so verschuldet dies einzig die Fülle der Gesichte. Denn wahrhaft erweist sich beinahe ein ganzes Leben notwendig, um das seine zu überschauen, ein ganzes Studium, um ihn zu verstehen: seine Schriften über die Naturwissenschaften allein bilden einen Kosmos, seine sechzig Briefbände eine Enzyklopädie. Und selbst seine Lyrik mit ihren mehr als tausend Gedichten wehrt durch ihre Mannigfalt jedem nicht fachlich geschulten Blick, als Einheit sich erkennen zu lassen. So ist der Wunsch nur allzu verständlich, durch eine Auswahl diese Vielzahl zu deutlicherer Übersicht zu verkürzen.
    Freilich, mit wie hohem Anspruch tritt ein solches Unterfangen, aus Goethes lyrischer Welt die wesentlichsten Verse zu wählen, an einen einzelnen heran, der sich dieser Auswahl
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