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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition)
Autoren: Alex Reichenbach
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das?»
    «Dass sie wahrscheinlich extrem impulsiv war und nicht gut darin, stabile Beziehungen aufzubauen.»
    «Da kenn ich aber einige», bemerkte Winter.
    «Ich spreche hier von pathologischen Verhaltensweisen, nicht von normaler serieller Monogamie», erwiderte Görgen kühl, der sich offensichtlich angesprochen fühlte. Aber Winter hatte bei seiner Bemerkung gar nicht an Görgens Frauengeschichten gedacht. Ihm war seine eigene pubertierende, schwierige Tochter eingefallen. Extrem impulsiv, unfähig zu Beziehungen, das beschrieb sie im Moment aufs Wort. Schnell verdrängte er den Gedanken. «War ein Scherz», sagte er. «Könnten Sie mir bis Montag auf einer Seite das Wichtigste über dieses Borderline-Syndrom zusammenfassen?»
    Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Görgen auf der anderen Seite der Leitung das Gesicht entgleiste. Auf Extraarbeit am Wochenende hatte er zweifellos keine Lust. Aber er sagte nach einer kurzen Pause zu.
    Winter besaß eine gewisse Skepsis gegenüber Psychologie und Psychiatrie im Allgemeinen. Und nicht nur weil ihm Görgen als Mensch suspekt war. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, googelte er deshalb erst einmal selbst die Begriffe «Ritzen» und «Selbstverletzung». Sein Eindruck war, dass es sich hier um eine aufmerksamkeitheischende, zelebriert-melancholische Modeaktivität junger Menschen handelte, die keineswegs immer mit diesem mysteriösen Borderline-Syndrom zu tun hatte.

    Abends gegen sechs kam Gerd mit einem neuen Bericht von der Spurensicherung zurück und begann, auf seinem ohnehin schon kahlgeräumten Schreibtisch endgültig Klarschiff zu machen. «Was soll das?», fragte Winter. «Du kommst doch Montag noch mal?»
    Gerd schüttelte den Kopf. «Der Chef sagte mir eben, ich soll Montag nicht mehr kommen, weil ich heute da war.»
    Winter fühlte, wie alle Energie aus ihm wich. Er hatte gehofft, dass Gerds Versetzung aufgrund des heutigen Fundes verschoben würde. Aber im Chefbüro hatte man sich genau umgekehrt entschieden.
    Winter hatte in den letzten fünfzehn Jahren mit Gerd wahrscheinlich mehr Zeit verbracht als mit seiner Frau oder seinen Kindern. Sie verstanden sich blind. «Versetzung» hörte sich so banal an. Nicht dramatisch wie «Scheidung» oder «Trennung». Aber im Prinzip war es etwas sehr Ähnliches, was da geschah. In gewisser Weise war es sogar schlimmer: Denn es wurde hier eine intakte und keine kaputte Beziehung auseinandergerissen.
    Sie hatten sich eher als Kollegen denn als Freunde bezeichnet, hatten sich fast nie privat getroffen. Aber es war Gerd, der ihn besser kannte als irgendjemand, der jeden Tag wusste, wie er drauf war und wie er geschlafen hatte, und in dessen Gegenwart er sich einfach am entspanntesten fühlte.
    «Mach’s gut, Andi, altes Haus», sagte Gerd im Stehen, seinen kleinen Lederrucksack auf der Schulter.
    Ausgerechnet in diesem Moment betrat die Aksoy den Raum. «Hier sind die restlichen Protokolle von der Nachbarschaftsbefragung», erklärte sie.
    «Ich geh dann mal», sagte Gerd und verschwand.
    Weg war er, auf Nimmerwiedersehen.
    «Wir haben insgesamt drei relevante Aussagen bekommen», redete Aksoy ungerührt weiter. «Die erste haben Sie schon auf dem Tisch, von Sebastian Stolze, dem Sohn des Zeugen Stolze, der die Leiche entdeckt hat. Sebastian will nachts zwischen zwei und drei Schritte auf dem Uferweg gehört haben. Wirkte glaubwürdig auf mich. Die Stolzes wohnen in einem Haus, das fast direkt an der Staustufe liegt. Dann haben verschiedene Zeugen morgens einen Schrei gehört. Wahrscheinlich ohne Bedeutung; der Zeuge Stolze meint, er hätte wohl geschrien, als er die Leiche gefunden hat. Interessant ist, was der Bewohner eines Hausboots zu sagen hat. Das ist im Augenblick das einzige Boot am Jachthafen. Ich würde sagen, etwa achthundert Meter vor der Staustufe. Der Bewohner ist ein gewisser Guido Naumann, Schriftsteller von Beruf. Er habe bis nachts um drei gearbeitet, und zwar an der westlichen Front seines Bootes, da steht sein Schreibtisch. Irgendwann hat er eine Bewegung an der Staustufe wahrgenommen. Es wäre ihm so vorgekommen, als sei da etwas Großes herabgefallen.»
    Winter grunzte. «Haben Sie ihn daran erinnert, dass die Sicht von seinem erleuchteten Schreibtisch nach draußen sehr beschränkt gewesen sein dürfte?»
    «Hab ich», grinste die Aksoy. «Daraufhin teilte er mir mit –», sie blätterte, amüsiert wirkend, im Stehen in ihrem Protokoll. Dann räusperte sie sich und las vor: «‹Um
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