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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition)
Autoren: Alex Reichenbach
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zwischendurch ein total schriller Schrei geweckt. Obwohl, das könnte auch ’ne Möwe gewesen sein. Die haben ziemlich rumkrakeelt.»

    Es war wohl keine Möwe, wie sich im weiteren Verlauf der Nachbarschaftsbefragung ergab. Mehrere Anwohner hatten am Morgen jemanden schreien gehört. Eine Zeugin war sich sogar sehr sicher, dass dieser laut ihrer Beschreibung «markerschütternde» Schrei höchstens zehn Minuten vor Eintreffen der ersten Polizeistreife erklungen war. Nach ihrer Meinung kam der Schrei von einer Frau.
    Das Opfer war allerdings um diese Zeit zum Schreien definitiv nicht mehr in der Lage gewesen. Kommissarin Aksoy nahm daher an, dass der Schrei irgendjemandes Reaktion auf den Anblick der Leiche im Wasser darstellte. Vielleicht kam er von der unbekannten Person, die Stolze von der Brücke aus bei der Baubude gesehen hatte. Am Ende klingelte Aksoy ein weiteres Mal an dem Reihenhaus, um Herrn Stolze zu fragen, ob die von ihm beobachtete Person geschrien hatte. Der pausierte einen Moment, dann lachte er peinlich berührt. «Ich fürchte, der Schrei, den Sebastian gehört hat, das war ich selber. Ich wollte das vorhin nur nicht sagen. Wissen Sie, man hält sich für einen harten Typen. Aber wenn man eine angefressene Leiche sieht … da gehen im ersten Moment Urtriebe mit einem durch.»

[zur Inhaltsübersicht]
    2
    Winter kam zutiefst verstört aus der Rechtsmedizin. Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Akten, die der Fall bereits produziert hatte. Dankbar für jede Ablenkung stürzte er sich darauf. Zuoberst lag Gerds schludrig ins Formular gehauener Text über eine häusliche Befragung bei Mitarbeitern der Staustufe. Das E-Werk war, genau wie die Frachtschiffschleuse, auch nachts in Betrieb. Eigentlich beste Voraussetzungen. Doch es war alles vergeblich. Gerd hatte unter den Arbeitern der Nachtschicht, die er zu Hause aus ihrem wohlverdienten Schlaf riss, nicht einen brauchbaren Zeugen gefunden. Winter dachte daran, wie er heute früh die von Maschinenbrummen erfüllte Kraftwerkshalle betreten hatte: Wo zweihunderttausend Liter Wasser in der Sekunde durch gigantische Turbinen rauschten, wo Generatoren rotierten und rund um die Uhr fünftausend Volt Spannung produzierten, da waren verdächtige nächtliche Schritte oder ein Platschen im Wasser bestimmt nicht zu hören. Die Leutchen hier hatten ja heute früh nicht einmal etwas von dem Polizeiaufgebot vor ihrer Haustür mitbekommen. Die hatten seelenruhig weitergearbeitet und von nichts gewusst, bis Winter an der Metalltür Sturm klingelte. Und die Frachtschiffschleuse jenseits der Maininsel, die lag zu weit von der Stelle entfernt, an der das Mädchen ins Wasser geworfen worden war.
    Als Nächstes nahm Winter sich das erste Protokoll aus der Nachbarschaftsbefragung vor. Aksoy hatte es verfasst. Prompt spürte er beim Lesen leisen Ärger in sich aufsteigen.
    Fachlich war alles in Ordnung. Da hatte er gar nichts zu meckern. Es war auch okay, dass sie ihren persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Zeugen notierte. Immerhin hatte sie den Menschen ins Gesicht gesehen, ihre Körpersprache wahrgenommen. Aber die Befragung bei der Familie Stolze war seiner Ansicht nach zu ausführlich und auf eine Weise beschrieben, als wolle die Aksoy ihm persönlich vorhalten: Sieh her, du böser Mann, wieder ein armes, von deiner Spezies unterdrücktes Frauchen!
    Winter gönnte seinen Augen eine kurze Pause, nahm einen Schluck Kräutertee und warf eine zweite Paracetamol ein. Die Kopfschmerzen hatten schon am Morgen an der Staustufe begonnen. Wahrscheinlich in der Sekunde, als er die Aksoy gesehen hatte. Mit dem Daumen rieb er sich die schmerzende Stirn.
    Es gab Momente, da konnte er den Hass der Aksoy auf Männer fast verstehen. Und die Stunde in der Rechtsmedizin vorhin war ein solcher Moment gewesen.
    Nach Jahren in der Mordkommission war es für ihn eine unappetitliche Selbstverständlichkeit, dass hinter so gut wie jedem Tötungsdelikt ein Mann steckte. Das Traurigste: Ermordete Frauen verdankten ihren Tod meist einem Mann, der ihnen nahegestanden hatte. Der die Frau mit Gewalt drangsalierte und am Ende tötete, wenn sie nicht kuschte, wie sie sollte. Bei deutschen Opfern war der Täter meist der Partner oder Expartner, bei ukrainischen oder lettischen der Zuhälter oder Freier, bei Kurden manchmal auch der Bruder oder Vater. So verschieden und doch so gleich.
    In dem neuen Fall war die genaue Beziehung zwischen Täter und Opfer noch unklar. Auch die
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