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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition)
Autoren: Alex Reichenbach
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das, wofür er berüchtigt war: Kaum hatte er die Handschuhe ausgezogen, griff er mit ungewaschenen Händen in die Innentasche seines Kittels und holte aus einer knisternden Tüte ein Mettbrötchen hervor. Das war der Moment, in dem Nötzel, der Staatsanwalt, fluchtartig den Raum verließ.
    «Okay», sagte Winter gefasst zu Butzke, während der in sein knackendes Brötchen biss. «Gehen Sie einfach mal davon aus, dass das Opfer heute Nacht erst ins Wasser gekommen ist. Liegezeit im Wasser nicht länger als sechs Stunden. Das ist schlicht von den äußeren Umstanden her am wahrscheinlichsten. Hätte sie schon tagelang im Wasser gelegen, wäre sie auch früher entdeckt worden.»
    Butzke kaute mit übervollem Mund. «Mhm», ließ er näselnd hören, «mal sehen.» Mampfend ging er einen Moment hin und her, dann schluckte er den Riesenbissen hinunter. «Hmhm. Also, die Totenflecken sind wegen des Blutverlusts ein bisschen blass, und das Gesäß ist leider nicht mehr ganz vorhanden. Aber man sieht doch, dass sie umgelagert wurde. Von Rückenlage in die klassische vornüberhängende Wasserleichenlage, in der ihr sie gefunden habt. Danach ist dann noch ein bisschen Blut in die Hände und Füße gesackt, weil die am weitesten unten waren. Das heißt, dass die Totenflecken zu dem Zeitpunkt der Umlagerung noch nicht ganz fixiert waren. Wenn sie beispielsweise letzte Nacht um zwei ins Wasser geworfen wurde, dann hätte sie etwa sechs bis zwölf Stunden vorher den Löffel abgegeben. Reicht Ihnen das?»
    «Damit kann ich arbeiten», sagte Winter. «Vielen Dank»
    «Es wäre aber schön», ergänzte Butzke etwas spitz, «wenn Sie mich mit dieser Behauptung nicht zitieren würden. Und zweitens, vergessen Sie bitte nicht, dass die Angabe nur dann stimmt, wenn sie tatsächlich nur so kurz im Wasser lag wie von Ihnen angenommen.»
    «Ich weiß, ich weiß. Danke trotzdem für den Tipp. Wir haben hier wenig genug in der Hand.» Winter seufzte und blickte noch einmal auf den zerstörten, mageren jungen Körper. Was ihn am meisten mitnahm, das waren nicht die großen, sondern die kleinen Zeichen der Gewalt. Die kaum sichtbaren, vernarbten runden Brandmale, wahrscheinlich von Zigarettenkippen, die zu Hunderten die Innenseiten des Oberschenkels entlangliefen. Die großflächigen Spuren alter Verbrühungen an beiden Füßen. Die mehr schlecht als recht verheilten, niemals professionell behandelten Brüche an Rippen und Armen im Röntgenbild. Ganz ähnlich wie in jenem Fall des unbekannten Mädchens, an das die Aksoy ihn am Morgen erinnert hatte und das vor Jahren nur wenig weiter westlich, im Stadtteil Nied, im Main gefunden worden war.
    Winter hielt schon auf die Tür zu, da fiel ihm noch etwas ein. «Können Sie genauer sagen, von wann die Misshandlungsspuren stammen?»
    Butzke kaute noch immer an seinem Mettbrötchen. Er hatte sein Häubchen abgezogen, und die kurzen Haare in seinem Haarkranz standen in alle Richtungen.
    «Das meiste stammt wahrscheinlich aus frühester Kindheit», überlegte er, mit offenem Mund mampfend über die Röntgenbilder gebeugt. «Hier diese Brüche jedenfalls, denn danach ist sie noch erheblich gewachsen. Sieht nichts so aus, als wäre es aus neuerer Zeit.» Er schüttelte den Kopf, biss nochmals ab und wendete sich wieder Winter zu. «Nein, keine neuen Verletzungen, definitiv nichts aus den letzten zwei, drei Jahren. Bis auf die Ritzungen natürlich. Aber das sehen Sie ja selbst.»
    Beide Unterarme der Toten waren mit fein säuberlich parallel angeordneten waagrechten Ritzwunden übersät. Viele waren noch mit einer dünnen dunklen Kruste geronnenen Bluts bedeckt. Darunter erahnte man die Narben älterer Schnitte.
    «Was ist mit den Ritzwunden? Wie erklären Sie sich die?»
    «Das sind Selbstverletzungen. Man sieht das auch daran, dass der linke Arm stärker betroffen ist. Den konnte sie mit der rechten Hand erreichen. Na ja, Sie werden sicher irgendeinen Psychologen im Präsidium oder im LKA haben, der Ihnen dazu was sagen kann.»

    «Borderline-Syndrom», sagte Görgen, der Psychologe, lapidar, als Winter ihn mit seinem Anruf aus irgendeiner Fernsehsendung riss. Görgen war unverheiratet. Man hörte seit Jahren von wechselnden Frauengeschichten. Winter musste sich eingestehen, dass dies in ihm Spießerinstinkte weckte: Intuitiv zweifelte er an der fachlichen Kompetenz eines Mannes, der Psychologie zum Beruf erwählt hatte, aber in sein Privatleben keine Ordnung bekam.
    «Borderline-Syndrom? Was heißt
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