Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition)
Autoren: Alex Reichenbach
Vom Netzwerk:
ethnische Zugehörigkeit des Opfers war nicht sicher bekannt. Aber über das Geschlecht des Täters machte Winter sich wenig Illusionen.
    Die Obduktion hing ihm nach. Natürlich hatte Winter schon Autopsien beigewohnt, die seinen Magen härteren Belastungsproben unterzogen hatten als diese. Aber mehr an die Seele ging ihm kaum eine.
    Das Mädchen, das da bleich auf kaltem, glänzendem Stahl lag, war jung, mager. Und so wie es aussah, war sie mindestens zweimal in ihrem kurzen Leben an einen Mann geraten, der Gewalt und Liebe in seinem Kopf nicht auseinanderbekam. Auf sechzehn oder siebzehn schätzte der Pathologe den zarten Leichnam, wobei er sich auf die Struktur diverser Knochennähte im Röntgenbild stützte. Das Gesicht lieferte jedenfalls keinen Anhaltspunkt für eine Altersbestimmung: Es existierte nicht mehr, war zu Matsch geschlagen, einzelne Zähne und Knochenstücke staken daraus hervor wie ein grausamer Scherz. Der Fotograf lief um den Tisch herum und dokumentierte den grausigen Anblick von allen Seiten, bestens ausgeleuchtet mit einem Profischeinwerfer.
    Butzke, der Rechtsmediziner, hatte für die Obduktion sein Wochenende unterbrochen. Auf diese Weise war die Leiche schneller an der Reihe, als wenn sie an einem gewöhnlichen Wochentag gefunden worden wäre.
    «Das Schlaginstrument muss groß und schwer gewesen sein», befand Butzke mit Blick auf das Gesicht. «Stumpf und rau an der Oberfläche, für die Risswunden. Eher ein Stein als ein Vorschlaghammer. Und es wurde mehrfach damit zugeschlagen.»
    Die Möwen waren es jedenfalls nicht, die das Gesicht so entstellt hatten. Sie hatten sich vielmehr an dem Teil der Leiche zu schaffen gemacht, der am weitesten oben geschwommen war: dem Gesäß. Es war bis auf die blanken Knochen abgefressen. Die Vögel hatten es glücklicherweise noch nicht geschafft, sich durch die Beckenhöhle an die Innereien zu machen. Sonst wäre wahrscheinlich die Luft aus der Bauchhöhle entwichen, Wasser wäre eingedrungen, und die Leiche wäre gesunken wie ein Stein. Es hätte dann Wochen dauern können, bis sie entdeckt worden wäre, von Fäulnisgasen hochgetrieben. Oder die Sogwirkung der Turbinen hätte sie in den Rechen des Kraftwerks gezogen.
    Dass die Tote heute früh an der Oberfläche schwamm, war ein Glücksfall für die Ermittler. Es lag daran, dass sich die Lungen beim Eintritt ins Wasser nicht geleert hatten. Das Mädchen war kopfüber oder bäuchlings ins Wasser gestürzt. Sie trug außerdem eine halb heruntergerutschte Polyester-Jogginghose und einen Geldgurt aus dem gleichen Material, in denen sich Luftkissen gehalten hatten. Genau wie in der Bauchhöhle. Obwohl die von Messerstichen durchlöchert war wie ein Sieb.
    «Ich werde mir hinterher noch das Wundgewebe auf Leukos ansehen», erklärte Butzke, während er nach Abschluss der Obduktion das Mikro ausschaltete. «Mein Tipp derzeit: Sie hat nach den Verletzungen noch eine knappe halbe Stunde gelebt. Komatös höchstwahrscheinlich. Ob sie letztlich an den Hirntraumata gestorben ist oder durch die Stichwunden verblutet, das kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen.»
    «Es dürfte für unsere Zwecke auch weniger wichtig sein», bemerkte Winter und sah nervös auf seine Uhr. Der Fotograf packte schon seine Sachen. Der Staatsanwalt im Notdienst, Nötzel, lehnte mit grünlichem Gesicht unter rötlichen Haaren an der Wand; von ihm war keine Unterstützung zu erwarten. Winter beeilte sich, Butzke eine letzte Frage zu stellen. «Können Sie den Todeszeitpunkt vielleicht noch näher eingrenzen? Nur unter uns?»
    «Der Todeszeitpunkt, euer Heiliger Gral. Ist mir schon klar. Mensch, Winter, ich muss hier mit vielen Unbekannten operieren: Ich weiß nicht, wie die Temperaturverhältnisse waren, dort, wo sie aufbewahrt wurde, bevor sie ins Wasser gekommen ist. Und die fehlende Waschhaut sagt bei niedrigen Wassertemperaturen nicht so viel über die Liegezeit im Wasser, wie Sie denken.»
    Winter hatte das dringende Bedürfnis, sich seinen Zigarettenersatz, einen zerkauten Bleistiftstummel, zwischen die Lippen zu schieben. Aber irgendwie hatte er in der Pathologie immer das Gefühl, seine Finger seien verseucht, und er könne sich auf keinen Fall hier etwas in den Mund stecken. Was natürlich barer Unsinn war. Denn erstens hatte er nichts angefasst, und zweitens war an diesem Mädchen wahrscheinlich nichts Giftiges dran. Sie roch nicht mal nach Fäulnis, höchstens ein bisschen algig. Und nach Darminhalt.
    Butzke indessen tat jetzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher