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Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
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er welche haben wolle.«
    »War der Baseballschläger rot, weiß und blau?«, erkundigt sich Marino. Er denkt an Scarpetta, Mühlen, Knochenstaub und alles, was sie ihm berichtet hat, als sie Dr. Philpotts Praxis verließ.
    »Kann sein«, erwidert der Mann mit einem argwöhnischen Blick. »Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?«
    56
    In den Wäldern rings um die Stadthäuser sind die fleckig weißen und grauen Espen in dunkle, kalte Schatten gehüllt. Die kahlen Bäume stehen dicht, sodass Lucy und Henri sich ducken und Zweige und winterstarre Schösslinge aus dem Weg schieben müssen, um voranzukommen. Ihre Schneeschuhe verhindern nicht, dass der Schnee ihnen bis zu den Knien reicht. Die glatte weiße Oberfläche ist, wohin das Auge blickt, frei von menschlichen Fußspuren.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagt Henri und stößt keuchend Dampfwolken aus. »Warum tun wir das?«
    »Weil wir frische Luft und Bewegung brauchen«, entgegnet Lucy und gerät in eine Schneewehe, die ihr fast bis zum Oberschenkel geht. »Wow! Schau dir das an. Unbeschreiblich schön!«
    »Ich finde, du hättest nicht herkommen sollen«, meint Henri, bleibt stehen und sieht sie im hereinbrechenden Dämmerlicht an, das den Schnee bläulich verfärbt. »Ich habe es überwunden. Außerdem habe ich genug von hier und kehre nach Los Angeles zurück.«
    »Es ist dein Leben.«
    »Ich weiß, dass du das nicht so meinst. Immer wenn du so cool daherredest, kriegst du eine lange Nase.«
    »Lass uns noch ein bisschen weitergehen«, schlägt Lucy vor und stürmt los. Dabei achtet sie darauf, dass keine Zweige oder zarten jungen Bäume zurückschnellen und Henri im Gesicht treffen, obwohl sie es möglicherweise verdient hat. »Dort liegt ein alter umgestürzter Baum. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn vom Weg aus gesehen habe, als ich herkam. Wir können den Schnee abwischen und uns setzen.«
    »Wir werden erfrieren«, protestiert Henri. Sie macht einen langen Schritt und pustet eine Wolke gefrorenen Atem aus.
    »Du frierst doch jetzt nicht etwa?«
    »Mir ist warm.«
    »Wenn uns kalt wird, stehen wir einfach auf und kehren um.«
    Henri antwortet nicht. Seit ihrer Grippe und dem Überfall hat sie deutlich an Kondition verloren. Als Lucy ihr in Los Angeles zum ersten Mal begegnete, war sie in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, zwar nicht sehr groß, aber dafür kräftig. Sie konnte Hanteln stemmen, die so viel wogen wie sie selbst, und schaffte zehn Klimmzüge, während die meisten Frauen schon mit einem Drittel ihres Körpergewichts und einem einzigen Klimmzug überfordert sind. Sie lief anderthalb Kilometer in sieben Minuten. Jetzt würde sie gerade einmal anderthalb Kilometer Gehen hinkriegen. In einem knappen Monat hat Henri abgebaut, und es wird täglich schlimmer, weil sie etwas verloren hat, das noch wichtiger ist als ihre Körperkraft: ihre Mission. Sie hat keine Mission mehr. Lucy befürchtet allerdings, dass Henri noch nie eine hatte und nur eitel war. Das Feuer der Eitelkeit brennt rasch und heiß und verglüht schnell.
    »Gleich da oben«, sagt Lucy. »Da ist er. Siehst du den großen Baumstamm? Dahinter liegt ein kleiner gefrorener Bach, und da drüben ist die Schönheitsfarm.« Sie deutet mit dem Skistock. »Fitnessraum und anschließend Dampfbad, das wäre jetzt das Größte.«
    »Ich kriege keine Luft mehr«, keucht Henri. »Seit der Grippe habe ich das Gefühl, dass meine Lungen auf die Hälfte geschrumpft sind.«
    »Du hattest eine Lungenentzündung«, hält Lucy ihr vor Augen. »Oder hast du das vergessen? Du hast eine Woche lang Antibiotika geschluckt. Als diese Sache passierte, hast du immer noch welche genommen.«
    »Ja, als die Sache passierte. Ständig geht es um diese Sache.« Sie betont das Wort Sache . »Fängt jetzt die Sprachkosmetik an?« Sie tritt in Lucys Fußstapfen, weil ihre Kräfte erlahmen und ihr der Schweiß ausbricht. »Mir tut die Lunge weh.«
    »Wie sollen wir uns denn sonst ausdrücken?« Lucy hat den umgestürzten Stamm erreicht. Früher einmal gehörte er zu einem großen Baum, doch nun ist er nur noch eine Hülle, der Überrest eines gewaltigen Schiffes. Sie fängt an, die dicke Schneeschicht abzuwischen. »Wie würdest du es bezeichnen?«
    »Dass ich beinahe umgebracht worden wäre.«
    »Hier. Setz dich.« Lucy nimmt Platz und klopft auf eine freigeräumte Stelle neben sich. »Eine kleine Pause kann nicht schaden.« Ihr gefrorener Atem steigt wie Dampf in den Himmel auf, und ihr Gesicht ist vor Kälte
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