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Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
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töten, um sich an mir für etwas zu rächen, das passiert ist, als ich noch ein Teenie war«, erklärt Lucy. »Soweit man einem Spinner wie ihm logische Motive unterstellen kann. Die Sache ist, dass ich mich nicht einmal an ihn erinnere. Wahrscheinlich würde er dich gar nicht wiedererkennen, Henri. Offenbar sind wir alle irgendwann nur Mittel zum Zweck.«
    »Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Du hast mein Leben ruiniert.«
    Tränen treten Lucy in die Augen. Wie festgefroren bleibt sie auf dem Baumstamm sitzen. Sie hebt noch mehr Schnee auf und wirft ihn hoch, sodass das Pulver durch die Dämmerung schwebt.
    »Außerdem stehe ich sowieso schon immer mehr auf Männer«, verkündet Henri und kehrt zurück zu der Spur, die sie vorhin auf ihrem Weg zum Baumstamm mit ihren Schneeschuhen hinterlassen haben. »Keine Ahnung, warum ich das mit dir mitgemacht habe. Vielleicht war ich einfach nur neugierig. Vermutlich würden die meisten Leute dich für eine Weile sehr interessant finden. Wo ich herkomme, sind Experimente schließlich nichts Außergewöhnliches. Eigentlich spielt es ja auch gar keine Rolle.«
    »Wo hast die Blutergüsse her?«, fragt Lucy. Doch Henri hat ihr schon den Rücken zugekehrt und stolziert mit weiten, übertrieben langen Schritten in den Wald hinein. Schwer atmend stößt sie ihre Stöcke in den Boden. »Ich weiß, dass du dich noch ganz genau daran erinnerst.«
    »Ach, die Blutergüsse, die du fotografiert hast, Miss Super-Cop?«, höhnt Henri keuchend und bohrt einen Skistock in den tiefen Schnee.
    »Ich weiß, dass du dich erinnerst.« Lucy sitzt auf dem Baumstamm und blickt ihr mit tränennassen Augen nach. Doch es gelingt ihr, ihre Stimme zu beherrschen.
    »Er hat sich auf mich draufgesetzt.« Henri stößt den zweiten Skistock in den Schnee und hebt einen Schneeschuh. »Dieser Spinner mit den langen lockigen Haaren. Zuerst dachte ich, er wäre die Frau, die den Pool pflegt, kein Mann. Ich hatte ihn schon vor ein paar Tagen dort gesehen, als ich oben krank im Bett lag. Aber ich habe geglaubt, er wäre eine dicke Frau mit krausen Haaren, die Laub aus dem Pool schöpft.«
    »Er hat Laub aus dem Wasser geschöpft?«
    »Ja. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass es eine andere Poolpflegerin ist, eine Aushilfe vielleicht. Und weißt du, was das Komische ist?« Als Henri sich zu Lucy umdreht, sieht ihr Gesicht ganz anders aus als sonst und wirkt wie das einer Fremden. »Diese bescheuerte Schnapsdrossel, die bei dir nebenan wohnt, hat fotografiert, wie sie es immer tut, sobald sich auf deinem Grundstück etwas rührt.«
    »Schön, dass du diese Informationen doch noch weitergibst«, meint Lucy. »Ich bin sicher, dass du sie Benton gegenüber nicht erwähnt hast, obwohl er so viel Zeit damit verbracht hat, dir zu helfen. Wirklich reizend, dass wir jetzt erst von der Existenz dieser Fotos erfahren.«
    »An mehr erinnere ich mich nicht. Er saß auf mir. Ich wollte es nicht erzählen.« Sie bekommt kaum Luft, als sie einen Schritt macht. Sie bleibt stehen und dreht sich wieder um. Ihr Gesicht wirkt in der Dämmerung bleich und grausam. »Es war mir peinlich«, keucht sie. »Dass plötzlich ein fetter, hässlicher Spinner an meinem Bett stand. Und nicht etwa, um es mir zu besorgen, sondern um sich auf mich draufzusetzen.« Sie macht kehrt und stapft weiter.
    »Danke für die Informationen, Henri. Du bist wirklich eine Spitzenermittlerin.«
    »Das war einmal. Ich kündige. Ich fliege zurück«, japst sie. »Nach Los Angeles. Ich kündige.«
    Lucy sitzt auf dem Baumstamm, hebt Schnee auf und betrachtet ihn in ihrem schwarzen Handschuh. »Du kannst nicht kündigen«, meint sie. »Weil du nämlich schon gefeuert bist.«
    Henri hört sie nicht.
    »Du bist gefeuert«, sagt Lucy und verharrt auf dem Baumstamm.
    Henri macht große Schritte durch den Wald und stößt ihre Skistöcke in den Schnee.
    57
    In der Waffenhandlung und Pfandleihe am U.S. Highway 1 schlendert Edgar Allan Pogue die Gänge entlang und sieht sich in aller Gemütsruhe um. Seine Finger liebkosen die Patronen aus Kupfer und Blei tief in seiner rechten Hosentasche. Ein Halfter nach dem anderen nimmt er vom Haken, studiert das Etikett und hängt das Halfter dann wieder zurück. Heute braucht er keines. Welcher Tag ist heute? Er ist nicht sicher. Die Tage sind vergangen und haben nichts weiter zurückgelassen als verschwommene Erinnerungen an Licht und Schatten, als er in seinem Liegestuhl schwitzte und das große Auge ansah, das ihm von der
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