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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE
Autoren: Jana Döhring
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Jesus mit einer Bibel in seiner Linken auf. Er wirkte wie ein Fels der Zuversicht inmitten der quirligen Ansammlung. Ich blieb stehen und sah zu den Leuten hinüber. Jetzt erst bemerkte ich, dass auf der Backsteinmauer, die den Jesus tragenden Sockel umgab, brennende Kerzen standen. Über dem Eingang zur Kirche hing ein großes Transparent mit der Aufschrift „Wachet und betet“.
    Der Anblick berührte mich außerordentlich. Ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug und sich die kleinen Härchen an meinen Armen aufstellten. Sollte ich einfach ... hinübergehen? Ich, der Judas? Konnte ich mich nicht dazustellen und ihnen sagen, wie sehr ich ihre aufrechte Haltung bewunderte? Mein Kleiner schlief, ihn würde es nicht stören. Ein paar Meter nur und ich könnte wieder stolz auf mich sein. Ich zögerte und blickte um mich. Natürlich würden hier auch Spitzel unterwegs sein, die der Stasi Bericht darüber erstatteten, was und wen sie beobachtet hatten. Doch war das hier nicht die Chance für mich zur Umkehr? Dann wäre mein Herz keine Mördergrube mehr und der Blick in den Spiegel wieder einfacher. Ich rang mit mir.
    Es war inzwischen dunkler geworden und immer mehr Menschen füllten den Vorplatz der Kirche, einige gingen hinein. Die Menge war aufgekratzt, aber fröhlich. Von innen hörte ich die Klänge der Orgel. Da tauchte plötzlich eine junge Frau neben mir auf und sah interessiert in den Kinderwagen. Sie hatte rotes kurzes Haar und trug ein voluminöses orange leuchtendes Tuch über dem dunklen Mantel, das lässig über ihre Schultern fiel. „Kommst du mit rein?“, sprach sie mich freundlich an und deutete in Richtung Kirche.
    Meine Unentschlossenheit spiegelte sich wohl in meinem Gesicht wider. Ich war ein bisschen erschrocken über die unerwartete Ansprache.
    „Ich“?, fragte ich verwirrt und schüttelte den Kopf.
    „Ja klar, es kommt auf jeden an“, sagte sie entschlossen.
    Als ich aber keine Anstalten machte, lief sie weiter und warf mir noch ein aufmunterndes „Vielleicht ein anderes Mal“zu. Dann verschwand sie in der Menge und ich setzte ruckartig und ratlos meinen Weg nach Hause fort.
    * * *
    Das nächste Treffen mit Micha fand überflüssigerweise wieder in neuer Umgebung statt. Die neue Wohnung war eine Kopie ihrer Vorgängerin und auch hier lief die ganze Zeit das Radio. Nun hatte es aber Interessantes zu berichten. Die DDR-Sender begannen zögerlich mit einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung.
    Micha schien sich nicht besonders gut zu fühlen, er wirkte lethargisch und war blass. Seine grundsätzlich positive Ausstrahlung war einem trotzigen Sarkasmus gewichen. Nach einigen Minuten, in denen er sich über das Wetter, die vollen Straßen und Ärger in der Dienststelle beschwerte, hätte ich auch gleich wieder aufbrechen können. Es gab nichts mehr zu berichten, was nicht allgegenwärtig war und für ihn existenzbedrohend.
    Ich saß nur da und hörte mir sein Erstaunen über die Zustände im Land an. Dann ereiferte er sich über unsere Brudervölker auf, die nach seiner Meinung diese Bezeichnung nicht mehr verdienten. „Jetzt betten die auch noch den Imre Nagy um“, er schüttelte den Kopf, „ich verstehe gar nichts mehr.“ Ich konnte es kaum glauben: Micha heulte sich also bei mir aus! Ein Stasioffizier am Rande des Nervenzusammenbruchs.
    Beinahe besorgt riet ich: „Lasst doch alle gehen, die das wollen. Dann zählt zusammen, was noch da ist, und schaut, ob sich damit ein Neuanfang lohnt.“ Micha zuckte mit den Schultern und erklärte mir, dass man das schon bis 1961 ausprobiert hätte.
    „Ein Neuanfang muss ja auch anders aussehen als das, was wir heute haben.“ Dabei dachte ich nicht zwangsläufig an Wiedervereinigung. Eigentlich dachte ich im Moment sowiesonicht viel. Zu sehr beschäftigte mich der Anblick, wie zermürbt der Mann vor mir saß. Am liebsten hätte ich mich leise davongestohlen, um das nicht mitansehen zu müssen. Ich wusste nicht, was ich hier noch verloren hatte.
    Wir haben uns nie wiedergesehen.
    * * *
    Warm fiel das gelbe Licht der Straßenlaternen auf das feuchte Pflaster der Allee. Ich stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Paul, ich und das Baby waren vor einigen Wochen hierher in eine sehr geräumige Altbauwohnung mit schönen hohen Decken und einem Badezimmer gezogen, das eine Wanne hatte. Aber auch sie war nicht das geeignete Instrument zur Rettung unserer Ehe.
    Ich hörte die leisen Atemzüge meines Sohnes und gedämpfte Musik aus dem
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