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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE
Autoren: Jana Döhring
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dem persönlichen Erscheinen genügt. Diesen Satz lese ich mehrmals, was Mike aufmerksam beobachtet.
    „Mach dir keine Hoffnungen“, sagt er. „Du musst schon mitkommen. Was macht das für einen Eindruck, wenn du dich nicht traust, Gerry gegenüberzutreten?“
    „Ich trau mich ja“, antworte ich trotzig, aber leise. „Und ich sehe, dass du grinst“, füge ich hinzu.
    Dann muss ich selbst über mich lachen und spreche mir Mut zu dafür, den Millionen von alten Freunden gegenüberzustehen, die Gerry mit in den Gerichtssaal bringen würde.
    * * *
    Es war Herbst und ich war schwanger. Mein Körper schwoll an und die DDR begann sich aufzulösen.
    Die Ultraschalltechnik steckte noch in den Kinderschuhen, aber die Gynäkologin meinte, Anzeichen für einen Jüngling zu sehen. Meine Ehe mit Paul war inzwischen eine Mischung aus nützlicher Kameradschaft und meinen einseitigenBemühungen um eine familiäre Struktur. Doch trotz der Aussichtslosigkeit, daraus doch noch Gemeinsamkeiten zu machen, war ich nicht verzweifelt, denn mein Fokus lag nun in meinem Innern. Der Geburtstermin war vorausgesagt worden für den Jahreswechsel in ein Jahr, das die Welt verändern sollte.
    Michael Gorbatschow, der im eigenen Land umfangreiche Reformen eingeleitet hatte und für die Menschen in der DDR damit zum Hoffnungsträger für eine neue Politik geworden war, trat gegenüber unserer greisen Partei- und Staatsführung neuerdings für die eigenständige Lösung nationaler Probleme ein und versetzte die Führungsriege damit zunehmend in Nöte. Denn wer sollte ihnen noch zu Hilfe kommen, wenn die Russen das nicht mehr wollten und das eigene Volk sich erhob?
    Bei den Volkskammerwahlen hatten sich zum ersten Mal zahlreiche Wahlberechtigte trotz strenger Beobachtung getraut, ihren Wahlschein nicht nur zu falten und in die Urne zu werfen, sondern ihre Zettel ungültig zu machen oder ihre bevorzugten Volksvertreter hinzuzuschreiben.
    Das Jahr 1989 wurde für mich zuallererst ein Babyjahr. Jungen Müttern stand das Recht zu, nach der Geburt ihres Kindes ein Jahr lang zu Hause zu bleiben. Der Arbeitsplatz blieb erhalten und das Grundgehalt wurde weitergezahlt. Die-se staatliche Maßnahme sollte Anreize zur Steigerung der Geburtenrate schaffen, was auch funktionierte. Ansonsten funktionierte nicht mehr viel.
    Die Menschen waren enttäuscht über ihr Land und äußerten sich immer mutiger dazu. Es hatte sich allmählich eine Opposition formiert, die die Machthaber mehr und mehr in Alarmstimmung versetzte. Sogar für Michael Jackson wurde eine Stasi-Akte angelegt, als er im Sommer in der Nähe des Brandenburger Tors in Westberlin ein Konzert gab.
    Massenhaft erzwangen die Menschen ihre Ausreise durch Botschaftsbesetzungen oder nutzten die Möglichkeiten, diesich inzwischen über die grüne Grenze der sozialistischen Bruderstaaten in den Westen ergaben. Inzwischen kannte jeder einen, der einen kannte, der über die Tschechoslowakei und dann Ungarn in den Westen abgehauen war.
    Meine Familie und ich warteten gespannt, was werden würde. Wir zählten nicht zu den Helden, sehnten das Ende der Diktatur jedoch dringend herbei. Die DDR war äußerlich noch genauso bröckelig und grau wie seit Jahren schon, doch der Kern glühte wie Magma in einem Vulkan.
    In diesen Tagen war es, als ich in der Dämmerung eines Spätsommerabends, das letzte Licht schimmerte rötlich über den Dächern der Altbauten, meinen Kinderwagen gemächlich über den holprigen Bürgersteig im Prenzlauer Berg schob. Es überholte mich eine Gruppe von Leuten meines Alters. Ein Mann unter ihnen sprach laut und eindringlich auf die anderen ein und gestikulierte aufgeregt. Die anderen stimmten ihm etwas verhaltener zu und einige schauten sich hin und wieder um, als suchten sie jemanden. Sie trugen Jeans, Parka und Kletterschuhe und signalisierten auf diese Weise ihre grundsätzlich fehlende Angepasstheit an den Staat. Ich schob den Kinderwagen ein wenig schneller, weil ich neugierig war und sehen wollte, wohin sie gingen.
    Neben dem Bürgersteig erhob sich eine grüne Anhöhe mit Hecken und Bäumen, die plötzlich endete und meinen Blick auf den mächtigen Bau der Gethsemanekirche lenkte. Ich kannte die Kirche nur flüchtig und hatte sie noch nie betreten. Zur Straßenseite grenzte sie sich durch einen niedrigen halbkreisförmigen Zaun ab. Als ich näher kam,bemerkte ich eine Ansammlung von Menschen vor ihrem Eingang. Zwischen den Leuten ragte ehrwürdig die Sandsteinfigur eines segnenden
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