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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE
Autoren: Jana Döhring
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Wohnzimmer. Der Raum war dunkel bis auf das einfallende Licht der Straßenbeleuchtung. Ich hatte nur mal nach ihm sehen wollen und war dann in Gedanken ans Fenster getreten. Ich träumte ein bisschen in die Nacht hinaus und wunderte mich aber bald, dass keine Autos vorbeifuhren. Auch keine Straßenbahnen. Dafür hörte ich von fern eher etwas wie ein Stampfen oder Stimmen, vielleicht beides miteinander vermischt, vereinzelte Rufe. Ich wartete ab und spähte angestrengt ins Dunkle. Es rumorte auf eine eigenartige Weise, als näherte sich eine Kolonne, aber das waren nicht die Laute von Maschinen oder schwerem Gerät.
    Die Geräusche kamen von links, stadtauswärts. Da rückte allmählich etwas in mein Blickfeld. Es waren Menschen, die dort auf der Straße entlangzogen. Sie liefen dicht beieinander und riefen ab und zu etwas. Es waren so viele, dass sie die gesamte Fahrbahn und den Bürgersteig füllten. Da wurde mir bewusst, dass es sich nur um eine Demonstration handeln könnte, wie es sie in Plauen und Leipzig schon gegeben hatte.Jetzt sah ich auch, dass einige von ihnen, es waren überwiegend junge Leute, Transparente trugen. Von meinem Standort aus konnte ich aber nicht lesen, was darauf stand. Ich öffnete das Fenster. Inzwischen waren die ersten des Zuges schon an unserem Haus vorbeigegangen und er nahm noch lange kein Ende. Jetzt hörte ich die Stimmen der Demonstranten, sie klangen selbstbewusst und stark. Die Menschen redeten miteinander, lachten, als machten sie sich gegenseitig Mut. Sie gingen in Richtung Alexanderplatz.
    Mich fröstelte und gleichzeitig wurde mir heiß bei diesem Anblick. Da machten sich meine Mitbürger auf, um unsere Welt zu verändern, trotzten der möglichen Gewalt und allen Gefahren einer in die Enge getriebenen lädierten Diktatur. Und ich? Ich stand am Fenster wie festgenagelt. Sah wieder nur zu und wartete ab.
    Wie dieser Zug der Opposition zog in meinen Gedanken mein bisheriges Leben an mir vorbei und ich sah mich als Schulmädchen, frierend mit Kniestrümpfen und fein gemacht bei der verordneten Demonstration zum 1. Mai. Ich sah mich später als Jugendliche beim Fackelzug im FDJ-Hemd durch die Straßen gehen, immer auf der Suche nach den interessanten Jungs aus der Parallelklasse. Ich sah mich mit meinen Kollegen am Tag der Republik an der Ehrentribüne auf der Karl-Marx-Allee vorbeischlendern, immer um einen guten Witz über die alten Männer bemüht und über einen zusätzlichen freien Tag erfreut.
    Doch nun war die Zeit des Sicheinrichtens und der Lethargie ganz offenbar vorbei. Was in Plauen angefangen und in Leipzig fortgeführt wurde, war in der Hauptstadt der DDR angekommen.
    Ich konnte nicht in die Gesichter der Demonstranten se-hen, aber ich sah ihren aufrechten Gang und ihre Würde. Benommen und beeindruckt trat ich einen Schritt in das dunkleZimmer zurück und Tränen liefen mir über das Gesicht. Mein Blick fiel auf das Kinderbett. „Es gibt die Chance, dass du einmal nicht mit Lug und Trug, Verstellung und elenden Kompromissen durchs Leben gehen musst“, flüsterte ich. „Und wenn das so kommt, dann verdanken wir es diesen Menschen dort draußen.“
    Es kam so und viel schneller, als die größten Optimisten es erwartet hatten.
    Meinen Sohn hatten meine mutigen Landsleute in diesen Tagen vor einem Leben mit Lügen bewahrt und mich von einer Verpflichtung entbunden.
    * * *
    Ich höre Schritte und sehe ihn auch schon. Er kommt nicht allein. Gerry spricht mit seinem Anwalt und sieht dabei zu Boden. Mein Puls schnellt in die Höhe, aber da sind sie auch schon fast an uns vorbei. Grußlos. Nur ganz kurz hält Gerrys Verteidiger inne und fragt Mike: „Sie vertreten in der Sache?“ Als Mike nickt, geht er mit seinem Mandanten weiter den Gang entlang und biegt um die Ecke. Ich sitze auf dem harten Stuhl und merke, wie ich langsam ruhiger werde. Ich frage mich, warum. Es ist die Aufregung der anderen, die Aufregung von Gerry, die ich spüre und die mich seltsamerweise ruhiger werden lässt.
    Jetzt kommen der Richter und eine Frau an seiner Seite auf uns zu. „Das ist die Protokollführerin“, erklärt mir Mike. Ich stehe auf und wir begrüßen uns kurz.
    Dann fragt der Richter: „Ist die Gegenseite noch nicht da?“
    „Doch“, hören wir Gerrys Anwalt rufen und beide kommen aus dem hinteren Flur zu uns. Ich höre, wie Gerry gepresst zu seinem Anwalt sagt: „Na, dann kann der Spaß ja losgehen.“
    Nacheinander betreten wir den kleinen Saal und nehmen Platz. Der
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