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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift
Autoren: Dorothy L. Sayers
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denken, und es wurden uns zwei grundverschiedene Deutungen dafür angeboten. An Ihnen ist es nun, zu entscheiden, ob er Ihrer Ansicht nach gemeint hat: ›Sie hat es endlich geschafft, mich loszuwerden; ich wußte nicht, daß ihr Haß so weit ging, mich zu vergiften‹, oder ob er meinte: ›Als ich erkannte, daß sie mich so sehr haßte, habe ich beschlossen, nicht länger am Leben zu bleiben‹ – oder ob er vielleicht keines von beiden gemeint hat. Wenn ein Mensch sehr krank ist, kommt er manchmal auf die aberwitzigsten Ideen, und manchmal redet er geradezu irre; vielleicht halten Sie es hier nicht für ratsam, allzu vieles als gegeben hinzunehmen. Trotzdem sind diese Worte Bestandteil der Beweisaufnahme, und es ist Ihr gutes Recht, sie in Betracht zu ziehen.
    Während der Nacht wurde er zunehmend schwächer und verlor das Bewußtsein, und um drei Uhr morgens starb er, ohne es wiedererlangt zu haben. Das war am 23. Juni.
    Nun war bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Verdacht aufgekommen. Dr. Grainger und Dr. Weare stimmten in der Ansicht überein, daß eine akute Gastritis die Todesursache gewesen sei, und wir brauchen ihnen diese Fehldiagnose nicht vorzuhalten, denn sie stand im Einklang sowohl mit den Symptomen der Krankheit als auch mit der vorherigen Krankengeschichte des Patienten. Die Todesurkunde wurde ganz normal ausgestellt, und am 28. fand die Beerdigung statt.
    Dann aber geschah etwas, was in Fällen dieser Art häufig geschieht, nämlich, daß jemand zu reden anfängt. In diesem speziellen Fall war es Schwester Williams, die redete, und wenn Sie wahrscheinlich auch der Meinung sind, daß dies von ihr als Krankenschwester falsch und indiskret war, so erwies es sich doch als gut, daß sie es tat. Natürlich hätte sie seinerzeit Dr. Weare oder Grainger ihren Verdacht mitteilen sollen, aber das hat sie nun einmal nicht getan, und wir können zumindest froh sein, daß nach Ansicht der Ärzte das Leben dieses unglücklichen Menschen auch dann nicht mehr zu retten gewesen wäre, wenn sie es ihnen gesagt hätte und sie daraufhin festgestellt hätten, daß die Krankheit eine Arsenvergiftung war. Es ergab sich jedenfalls, daß Schwester Williams in der letzten Juniwoche zu einem anderen Patienten von Dr. Weare geschickt wurde, der demselben literarischen Kreis in Bloomsbury angehörte wie Philip Boyes und Harriet Vane, und während sie diesen Patienten pflegte, erzählte sie von Philip Boyes und sagte, die Krankheit habe in ihren Augen sehr nach einer Vergiftung ausgesehen, ja, sie erwähnte sogar das Wort Arsen. Einer erzählte es dem andern, man sprach darüber beim Tee oder auf Cocktailpartys, wie man so etwas meines Wissens nennt, und schon bald hatte die Geschichte sich verbreitet, es wurden Namen genannt, und man ergriff Partei. Miss Marriott und Miss Price erfuhren davon, und es kam auch Mr. Vaughan zu Ohren. Nun hatte Philip Boyes’ Tod Mr. Vaughan sehr überrascht und bestürzt, vor allem nachdem er doch mit ihm in Wales gewesen war und wußte, wie sehr sein Gesundheitszustand sich in diesem Urlaub gebessert hatte, und Mr. Vaughan hatte ja auch das starke Gefühl, daß Harriet Vane sich in der Liebesaffäre schlecht benommen habe. Er fand also, daß da etwas unternommen werden müsse, und ging zu Mr. Urquhart, um ihm die Geschichte zu unterbreiten. Nun ist Mr. Urquhart Rechtsanwalt und von Berufs wegen eher geneigt, Gerüchten und Verdächtigungen mit Vorsicht zu begegnen, weshalb er Mr. Vaughan ermahnte, daß es unklug sei, herumzulaufen und Vorwürfe gegen Leute zu erheben, denn das könne ihn leicht wegen übler Nachrede vor Gericht bringen. Gleichzeitig erfüllte es ihn natürlich mit Unbehagen, daß so etwas über einen Verwandten von ihm gesagt wurde, der in seinem Haus gestorben war. Er wählte den Weg – den sehr vernünftigen Weg –, Dr. Weare zu konsultieren, dem er den Rat gab, wenn er vollkommen sicher sei, daß die Krankheit eine Gastritis und nichts anderes gewesen sei, solle er Schwester Williams rügen und dem Gerede ein Ende machen. Dr. Weare war natürlich sehr erstaunt und betroffen, als er hörte, was da erzählt wurde, aber da der Verdacht nun einmal geäußert war, konnte er nicht leugnen, daß – unter Berücksichtigung der Symptome allein – eine derartige Möglichkeit nicht völlig auszuschließen war, zumal, wie Sie bereits im ärztlichen Gutachten gehört haben, die Symptome einer Arsenvergiftung und die einer akuten Gastritis kaum voneinander zu
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