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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift
Autoren: Dorothy L. Sayers
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auswärts, bis es in die Spitzen gelangt und mit ihnen abgeschnitten wird. Sicher werden die Damen unter den Geschworenen das sehr gut verstehen, denn ich glaube, so etwas Ähnliches geschieht auch im Falle der sogenannten Dauerwelle. Die Welle wird in einem bestimmten Haarabschnitt gemacht, und nach einer Weile wächst sie aus; von der Wurzel her kommt neues, glattes Haar und muß wieder gewellt werden. Die Stelle, an der die Welle sitzt, zeigt an, vor wie langer Zeit sie gemacht wurde. Auch wenn man sich auf einen Fingernagel schlägt, wandert die Verfärbung nach und nach den Nagel entlang, bis sie mit der Schere abgeschnitten werden kann.
    Nun wurde gesagt, das Vorhandensein von Arsen in und um Philip Boyes’ Haarwurzeln weise darauf hin, daß er schon mindestens drei Monate vor seinem Tod Arsen zu sich genommen haben müsse. Daraufhin müssen Sie sich fragen, welche Bedeutung das im Zusammenhang mit den Arsenkäufen der Angeklagten im April und Mai und den Gastritisanfällen des Verstorbenen im März, April und Mai hat. Der Streit mit der Angeklagten ereignete sich im Februar; im März wurde er krank, und im Juni starb er. Fünf Monate liegen zwischen dem Streit und dem Tod, vier Monate zwischen seiner ersten Erkrankung und seinem Tod; diesen Daten mögen Sie eine gewisse Bedeutung beimessen.
    Wir kommen nun zu den polizeilichen Ermittlungen. Als der Verdacht laut wurde, überprüfte die Kriminalpolizei Harriet Vanes Schritte und begab sich anschließend zu ihr, um ihre Aussage aufzunehmen. Als man ihr mitteilte, man habe festgestellt, daß Philip Boyes an Arsenvergiftung gestorben sei, wirkte sie sehr überrascht und sagte: ›Arsen? Das ist doch nicht zu fassen!‹ Und dann lachte sie und sagte: ›Wissen Sie, ich schreibe gerade ein Buch über einen Giftmord mit Arsen.‹ Man fragte sie nach ihren Arsen- und sonstigen Giftkäufen, die sie ganz bereitwillig zugab und spontan mit derselben Erklärung begründete, die sie uns hier vor Gericht gegeben hat. Man fragte sie, was sie mit den Giften gemacht habe, und sie antwortete, sie habe sie verbrannt, weil es gefährlich sei, so etwas herumstehen zu haben. Die Wohnung wurde durchsucht, aber es wurde keinerlei Gift gefunden, nur Dinge wie Aspirin und sonstige gewöhnliche Medikamente. Sie leugnete strikt, Philip Boyes Arsen oder irgendein anderes Gift verabreicht zu haben. Gefragt, ob das Arsen vielleicht versehentlich in seinen Kaffee geraten sein könne, antwortete sie, das sei völlig unmöglich, denn sie habe die Gifte allesamt vor Ende Mai vernichtet.«
    Hier griff Sir Impey Biggs ein und bat mit freundlicher Erlaubnis, Seine Lordschaft möge den Geschworenen doch auch noch einmal die Aussage Mr. Challoners wiederholen.
    »Gewiß, Sir Impey, ich bin Ihnen sehr verbunden. Mr. Challoner ist, wie Sie sich erinnern, Harriet Vanes literarischer Agent. Er war hier, um uns zu sagen, daß er bereits im vorigen Dezember mit ihr über das Thema ihres nächsten Buches gesprochen habe und daß sie ihm dabei sagte, es handle sich um Gift, sehr wahrscheinlich um Arsen. Sie mögen es also als einen Punkt zugunsten der Angeklagten werten, daß sie schon einige Zeit vor dem Streit mit Philip Boyes die Absicht hatte, sich mit dem Kauf und der Verabreichung von Arsen näher zu befassen. Sie hat dieses Thema offenbar sehr genau studiert, denn auf ihren Bücherregalen standen etliche Werke über Gerichtsmedizin und Toxikologie sowie Berichte über einige berühmte Giftmordprozesse, darunter die Fälle Madeleine Smith, Seddon und Amstrong – lauter Fälle, in denen es um Arsen ging.
    Dies ist nun, glaube ich, das Ergebnis der Beweisaufnahme, wie sie Ihnen vorgetragen wurde. Diese Frau ist angeklagt, ihren früheren Geliebten mit Arsen vergiftet zu haben. Zweifellos hat er Arsen zu sich genommen, und wenn Sie überzeugt sind, daß sie es ihm mit der Absicht gegeben hat, ihn zu verletzen oder zu töten, und daß er daran gestorben ist, dann ist es Ihre Pflicht, sie des Mordes schuldig zu sprechen.
    Sir Impey Biggs hat Ihnen in seiner glänzenden Rede dargelegt, daß sie für einen solchen Mord kaum ein Motiv gehabt habe, aber ich muß Ihnen sagen, daß Morde sehr oft aus scheinbar höchst unzureichenden Motiven begangen werden – falls man überhaupt ein Motiv als zureichend für ein solches Verbrechen bezeichnen kann. Besonders wenn die Beteiligten Mann und Frau sind oder als Mann und Frau zusammengelebt haben, sind oft Leidenschaften im Spiel, die sich bei Menschen mit
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