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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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nicht im Dienst.«
    »Ein Ermittler ist immer im Dienst«, sagte Surin. »Wo sind Sie?«
    »Auf der M-I.« In Wahrheit war Arkadi jetzt schon ein gutes Stück weit in der Stadt.
    »Ich bin an der Metrostation Tschistyje Prudi. Kommen Sie her, so schnell Sie können. »
    »Wieder Stalin?«
    »Kommen Sie einfach her.«
    Selbst wenn Arkadi es eilig gehabt hätte, an Surins Seite zu gelangen - er kam nur langsam voran, als der Verkehr vor dem Obersten Gericht auf eine einzige schmale Spur zusammenfloss. Lastwagen und transportable Generatoren standen ungeordnet am Randstein und auf der Straße. Vier weiße Zelte leuchteten auf dem Gehweg. Bauarbeiten rund um die Uhr waren nichts Ungewöhnliches im ehrgeizigen neuen Moskau, aber dieses Projekt sah besonders planlos aus. Verkehrspolizisten winkten die Autos energisch durch den Engpass, aber Arkadi steuerte seinen Wagen zwischen zwei Lkws und hielt an. Ein streitlustiger, uniformierter Milizoberst schien das Kommando zu führen. Er schickte einen Polizisten herüber, der Arkadi verjagen sollte, doch der Mann war ein alter Sergeant namens Gleb, den Arkadi kannte.
    »Was ist hier los?«
    »Das sollen wir nicht sagen.«
    »Klingt interessant.« Arkadi mochte Gleb; der Sergeant konnte pfeifen wie eine Nachtigall und hatte die lückenhaften Zähne eines ehrlichen Mannes.
    »Nun ja, angesichts dessen, dass Sie Ermittler sind … » »Angesichts dessen … », sagte Arkadi zustimmend.
    »Na gut.« Gleb senkte die Stimme. »Es gab Renovierungsarbeiten; die Cafeteria im Keller soll ausgebaut werden. Ein paar türkische Arbeiter haben gegraben. Sind auf eine kleine Überraschung gestoßen.«
    Das Oberste Gericht war ein Monolith aus der Stalin-Ära, der turmhoch über den Schnee ragte. Bei den Ausschachtungsarbeiten war ein Teil des Gehwegs aufgerissen worden. Arkadi trat zu den Zuschauern an die halsbrecherische Kante, wo Jupiterlampen ihr gleißendes Licht auf einen Bagger in der Grube richteten, die zwei Stockwerke tief und ungefähr zwanzig Meter breit war. Neben der Miliz drängten sich auf dem Gehweg Feuerwehrleute und Polizisten, städtische Beamte und Agenten der Staatssicherheit, die aussahen, als hätte man sie aus dem Bett geholt.
    In der Baugrube war eine geordnete Kolonne von Männern in Overalls und Schutzhelmen bei der Arbeit, sowohl am Boden als auch auf einem Gerüst. Sie waren mit Hacken, Kellen und Plastiksäcken ausgerüstet und trugen OP-Masken und Latexhandschuhe. Ein Mann löste etwas aus der Wand, das aussah wie ein brauner Ball. Er legte es in einen Segeltucheimer, den er an einem Seil zum Boden hinunterließ. Dann nahm er seine Kelle wieder auf und befreite akribisch einen Brustkorb mit daran hängenden Armen. Als Arkadis Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah er, dass eine ganze Wand der Ausschachtung von Schichten menschlicher Überreste durchzogen war, umrissen vom Schnee: ein Längsschnitt durch die Erde mit Schädeln anstelle von Steinen und Schenkelknochen statt Holzstücken. Manche waren bekleidet, manche nicht. Es roch süßlich nach Kompost.
    Der Segeltucheimer wurde wie von einer Löschkolonne quer durch die Grube weitergereicht und an einem Seil zu einem Zelt heraufgezogen, wo schon weitere schemenhafte Körper auf Tischen aufgereiht lagen. Der Oberst ging von einem Zelt zum andern und trieb die Leute, die die Knochen sortierten, kläffend zur Eile. Währenddessen behielt er Arkadi im Auge.
    Sergeant Gleb sagte: »Bevor es Morgen wird, wollen sie alle
    Leichen rausgeholt haben. Die Leute sollen es nicht sehen.«
    »Wie viele bisher?«
    »Das ist ein Massengrab. Wer weiß?«
    »Wie alt?«
    »Nach der Kleidung zu urteilen, sagen sie, aus den vierziger oder fünfziger Jahren. Löcher in den Hinterköpfen. Gleich im Keller des Obersten Gerichts. Die Treppe runter und bumm! So haben sie das gemacht. Das war vielleicht ein Gericht.«
    Der Oberst kam zu ihnen. Er trug volle Wintermontur mit blauer Pelzmütze. Arkadi fragte sich nicht zum ersten Mal, welches Tier ein blaues Fell hatte.
    Der Oberst verkündete mit lauter Stimme: »Man wird diese Leichen untersuchen, um festzustellen, ob eine Straftat vorliegt«
    Entlang der Reihe drehten sich Köpfe zu ihnen um, und viele blickten belustigt.
    »Was haben Sie gesagt?«, fragte Arkadi den Oberst.
    »Ich habe gesagt, ich kann allen nur versichern, dass man die Leichen untersuchen wird, um festzustellen, ob eine Straftat vorliegt.«
    »Gratuliere.« Arkadi legte dem Oberst den Arm um die Schultern und
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