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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist
Autoren: Martin Cruz Smith
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Telefonieren«, sagte sie. Eva klang so erschöpft wie er; von einer Sechzehn-Stunden-Schicht lagen noch vier Stunden vor ihr. »Die Arbeit in einer Notfallklinik hat mich zu der festen Überzeugung gebracht, dass keine Nachrichten gute Nachrichten sind.«
    »Aber es sind jetzt vier Tage. Er hat sein Schachspiel mitgenommen. Ich dachte, er geht zu einem Turnier. So lange war er noch nie weg.«
    »Das stimmt, und jede Minute birgt endlose Möglichkeiten.
    Du kannst nicht sämtliche Zügel halten, Arkascha. Schenja geht gern Risiken ein. Er treibt sich gern mit den obdachlosen Jungen am Platz der Drei Bahnhöfe herum. Du bist dafür nicht verantwortlich. Manchmal glaube ich, dein Drang, Gutes zu tun, ist eine Form des Narzissmus.«
    »Ein merkwürdiger Vorwurf aus dem Mund einer Ärztin.« Er sah sie vor sich, wie sie in ihrem weißen Kittel in einem dunklen Klinikbüro saß, die Füße auf dem Couchtisch, und in den Schnee hinausschaute. Zu Hause konnte sie stundenlang so dasitzen, eine Sphinx mit Zigaretten. Oder sie wanderte mit einem kleinen Rekorder und einer Tasche voll Kassetten umher und interviewte unsichtbare Leute, wie Eva sie nannte Leute, die nur nachts herauskamen. Sie sah nie fern.
    »Surin hat angerufen«, sagte sie. »Du sollst ihn zurückrufen. Tu es nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Weil er dich hasst. Der ruft dich nur an, wenn er dir schaden kann .«
    »Surin ist der Staatsanwalt. Ich bin sein Ermittler. Ich kann ihn nicht einfach ignorieren.«
    »Doch, das kannst du.«
    Diese Diskussion hatten sie schon öfter geführt. Arkadi kannte seinen Text auswendig, und ihn am Telefon wiederholen zu müssen, war ein überflüssiges Elend. Außerdem hatte sie recht. Er konnte seine Stellung bei der Staatsanwaltschaft kündigen und zu einer privaten Sicherheitsfirma gehen. Oder - er hatte schließlich ein Juradiplom von der Moskauer Universität - er konnte Anwalt werden, mit ledernem Aktenkoffer und Visitenkarte. Oder sich eine Papiermütze aufsetzen und bei McDonald’s Hamburger servieren. Einem leitenden Ermittler standen nicht viele andere Wege offen, aber sie waren allesamt besser als ein Ende als toter Ermittler, vermutete Arkadi. Er glaubte nicht, dass Surin ihm das Messer in den Rücken stoßen würde, aber vielleicht würde der Staatsanwalt jemand anderem zeigen, wo die Messerschublade war. Wie auch immer, das Gespräch verlief anders als geplant.
    Arkadi hörte ein Rascheln; anscheinend stand sie auf. »Vielleicht sitzt er irgendwo fest, bis die Metro wieder fährt«, sagte er. »Ich versuch’s im Schachclub und bei den Drei Bahnhöfen.«
    »Vielleicht sitze ich auch irgendwo fest. Arkadi, warum bin ich nach Moskau gekommen?«
    »Weil ich dich darum gebeten habe.«
    »Oh, ich verliere mein Gedächtnis. Der Schnee hat so viel zugedeckt. Es ist wie eine Amnesie. Vielleicht wird Moskau vollständig begraben werden.«
    »Wie Atlantis?«
    »Genau wie Atlantis. Und die Menschen werden nicht glauben können, dass ein solcher Ort jemals existiert hat.«
    Eine lange Pause folgte. Es knisterte im Hörer.
    »War Schenja mit den obdachlosen Jungen zusammen?«, fragte Arkadi. »Klang er aufgeregt? Verängstigt?«
    »Arkadi, vielleicht hast du es noch nicht bemerkt. Wir haben alle Angst.«
    »Wovor?«
    Jetzt wäre ein guter Moment, um von Isakow anzufangen, dachte er. Mit der Distanz zwischen ihnen und in der Vertraulichkeit eines Telefongesprächs. Er wollte nicht wie ein Ankläger klingen, er musste es nur wissen. Er brauchte es nicht einmal zu wissen, wenn es nur vorbei war.
    Es war still. Nein, nicht still. Sie hatte aufgelegt.
    Als die M-I in den Lenin-Prospekt überging, gelangte Arkadi in eine Welt von leeren, halb erleuchteten Einkaufszentren, Autogeschäften und dem schwefligen Gleißen der durchgehend geöffneten Casinos: Sportsman’s Paradise, Goldener Khan, Sindbad. Arkadi spielte mit dem Namen Cupido, der auf Sojas Lippen eher nach Hardcore als puttenhaft geklungen hatte. Die ganze Zeit ging Arkadis Blick nach rechts und links; er fuhr langsamer und nahm jede schattenhafte Gestalt am Straßenrand in Augenschein.
    Sein Handy klingelte, aber es war nicht Eva. Es war Surin. »Renko, wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«
    »Ich fahre spazieren.«
    »Welcher Idiot ist in einer solchen Nacht draußen?«
    »Anscheinend sind wir beide draußen, Leonid Petrowitsch.«
    »Haben Sie meine Nachricht nicht bekommen?«
    »Wie bitte?«
    »Ob Sie meine … Schon gut. Wo sind Sie jetzt?«
    »Ich fahre nach Hause. Ich bin
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