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Stadtmutanten (German Edition)

Stadtmutanten (German Edition)

Titel: Stadtmutanten (German Edition)
Autoren: Daniel Strahl
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das, was Marty gerade tat.
    Das tat er doch. Oder?
    Nun, da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel mir die ungesunde Färbung seiner Haut auf. Ich schaute zu seinem Laptop, an den die Kopfhörer angeschlossen waren und stellte fest, dass er die gleiche Playlist in der Schleife hörte, Gott weiß wie oft schon, seit Eric und ich sein Zimmer vor etlichen Stunden verlassen hatten. Auf dem Tisch lagen zwei Briefe. Einer an seine Eltern. Einer an mich.
    »Marek, bitte hol mich nicht zurück. Du weißt, was ich damit meine. Keine Angst, ich möchte nicht mehr sterben. Als ihr weg wart, habe ich erstmal einen geraucht und nachgedacht. (OK, ich habe mich richtig geplättet.) Und ich habe etwas eingesehen: Weißt Du noch, wie wir Murat gefunden haben? Irgendwie habe ich ihn danach oft beneidet. Nur herumliegen und immer wieder die Lieblingsmusik hören, die nie langweilig wird. Ich schätze, genau danach habe ich immer gesucht, deswegen kiffe ich. Ich will gar nichts im Leben erreichen. Ich will kein Abitur, keine Arbeit und eigentlich auch keine Freundin. Ich will keine Verantwortung. Eigentlich will ich nur chillen. Klingt idiotisch, oder? Aber so ist es. Das will ich. Das kann ich. Ich will so bleiben, mindestens bis meine Eltern kommen. Bitte lass mich. Alles Gute, Marty.«
    Nachdem ich den Brief gelesen hatte, war ich derjenige, der neidisch war. Diese Ruhe, diesen Frieden hätte ich mir so sehr gewünscht. Aber mir war ein anderer Weg vorgeschrieben. Marty würde OK sein, solange sein Rechner nicht abstürzte oder der Strom ausfiel. Bei mir war das anders. Mir waren all die Sachen, die Marty gleichgültig waren, wichtig. Ich wollte wieder zur Arbeit, wollte Verantwortung, wollte meine Frau und meinen Sohn zurück. Ich beschloss, ihm seinen Willen zu lassen und wandte mich zum Gehen. Als ich zurückblickte, sah ich, dass er tatsächlich Enricos T-Shirt trug. Auf seiner Brust stachen die Worte »tot, aber glücklich« hervor. Was an Enrico wie Kunst gewirkt hatte, war an Marty ein Ausdruck seines Selbst. Er war tot, jedenfalls gesellschaftlich, aber es war genau, was er wollte.
    Ich schloss die Tür hinter mir und sah ihn nie wieder. Nun, da der letzte Grund, meinen Plan vielleicht doch noch umzustürzen, sich erledigt hatte, war ich in einer merkwürdigen Stimmung. Eine Mischung aus Bestimmtheit und Leere machte sich in mir breit. Mir war klar, was ich zu tun hatte. Aber mir war nicht mehr klar, ob ich die Kraft dazu hatte. Es widerstrebte mir und doch wollte ich es mehr als alles andere. Es gab eine Alternative, doch für die war ich nicht mutig genug. Schon pervers. Da ist jemand, der mutig genug ist, sein Leben, seine Identität aufzugeben und den Sprung ins Ungewisse zu wagen, weil er zu feige ist, zu seinem Gebrechen zu stehen. Mir war das in aller Klarheit bewusst. Ich lief vor einem Problem weg. Ich wollte mein altes Leben zurück, wie ich es gekannt hatte. Ich wollte mit der Frau die ich liebte und unserem Kind zusammen sein. Aber um welchen Preis würde das geschehen? Verdammt, bei Lila hatte ein Kuss gereicht, um sie zu infizieren. Konnte ich mir vorstellen, nie wieder meine Frau zu knutschen? Was wäre, wenn Kai meine Zahnbürste in den Mund nehmen, von meinem Becher trinken, ich ihn anhusten würde? Unvorstellbar. Und ich war aktenkundig! Sie würden uns nicht in Ruhe lassen. Nein, ich musste gehen. Aber es gefiel mir ganz und gar nicht. Einen Moment lang überlegte ich, Bens Einladung anzunehmen und mit ihm und seiner Flamme in die Wildnis zu gehen. Aber ich entschied mich dagegen. Ich konnte die romantische Vorstellung der beiden von einem Leben fernab der Zivilisation nicht teilen.
    Es war dunkel, als ich vor die Haustür trat. Ich schlurfte durch die Straßen, ohne wirklich zu wissen, wohin ich ging. Einmal stand ich vor dem Karo, ging aber nicht hinein. Ebenso stand ich vor dem Bunker, besuchte aber Enrico ebenfalls nicht. Ich ließ mich treiben. Die Kämpfe um mich herum interessierten mich nicht. Ich hatte die Schnauze voll vom Töten. Ich ging allem aus dem Weg. Schließlich fand ich mich im Waller Park wieder, nur einen Steinwurf von meinem Wohnhaus entfernt. Da die Straßen inzwischen etwas ungemütlich wurden, drehte ich eine Runde durch den Park und fand mich auf der Emder Straße wieder, die zum Hafengebiet und zur Überseestadt führte. Also gut, sollte dies meine erste Station werden. Ich würde mein Schlupfloch finden. Gleich neben dem Eingang zum Waller Park stand ein
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