Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Titel: Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
Sie nicht vorlassen, solange Sie kein Formular ausgefüllt haben.«
    Mary Ann füllte ein Formular aus. Mit den Fragen quälte sie sich ab. Verfügen Sie über ein Auto? Würden Sie eine Stelle außerhalb von San Francisco annehmen? Beherrschen Sie eine oder mehrere Fremdsprachen?
    Sie trug das Formular zu der Frau ins Nebenzimmer. »Ich bin fertig«, sagte sie so freundlich und verbindlich wie möglich.
    Die Frau grunzte. Sie nahm Mary Ann das Formular ab und rückte die an einer Kette baumelnde Brille auf ihrer kleinen Schweinchennase zurecht.
    Sie hatte eine Entenschwanzfrisur mit eingefärbten Strähnchen. Während sie das Formular prüfte, fingerte sie an einem Schreibtischspielzeug herum: vier Stahlkugeln, die an Schnüren von einem Gestell aus Walnußholz baumelten.
    »Kein Abschluß«, sagte die Frau schließlich.
    »Meinen Sie … vom College?«
    Die Frau brauste auf. »Ja. Vom College, meine ich.«
    »Ich war zwei Jahre auf einem Junior College in Ohio, wenn das …«
    »Zwischenprüfung?«
    »Ja.«
    »Ja und?«
    »Was?«
    »Worin hatten Sie Ihre Zwischenprüfung?«
    »Oh. In Kunstgeschichte.«
    Die Frau lächelte affektiert. »Von der Sorte haben wir aber garantiert mehr als genug.«
    »Macht ein Abschluß denn wirklich so viel aus? Ich meine … für einen Sekretärinnenjob?«
    »Na hören Sie mal! Ich hatte schon Doktorandinnen als Tippsen.« Sie redete in der ersten Person, als wären die jobbenden Studentinnen ihre Leibeigenen. Sie schrieb etwas auf eine Karteikarte und überreichte sie Mary Ann. »Das ist eine kleine Büroartikelfirma an der Market Street. Der Verkaufsleiter braucht ein Girl Friday. Fragen Sie nach Mr. Creech.«
     
    Der entpuppte sich als rotgesichtiger Mann um die Fünfzig. Er trug ein burgunderrotes Polyestersakko mit übergroßem Fischgrät muster. Seine Hose und die Krawatte hatten die gleiche Farbe.
    »Haben Sie schon mal im Verkauf gearbeitet?« Er lächelte und lehnte sich in seinem quietschenden Drehstuhl zurück.
    »Nein … na ja, nicht so richtig. Die letzten vier Jahre habe ich bei Lassiter Fertilizers in Cleveland als Sekretärin gearbeitet. Ich war nicht direkt im Verkauf, aber … wissen Sie … ich hatte eigentlich mit allem zu tun.«
    »Klingt gut. Firmentreue. Das ist immer ein gutes Zeichen.«
    »Die letzten anderthalb Jahre war ich auch noch Assistentin in der Geschäftsleitung, und in meiner Zuständigkeit lagen mehrere …«
    »Schön, schön … Ich nehme an, Sie wissen, was ein Girl Friday ist?«
    »So eine Art Mädchen für alles … oder?« Sie lachte nervös auf.
    »Die Bezahlung ist gut. Sechshundertfünfzig im Monat. Und es geht sehr locker zu bei uns … Schließlich sind wir in San Francisco.« Er fixierte Mary Ann und fing an, am Knöchel seines Zeigefingers herumzukauen.
    »Mir gefällt es … wenn es im Büro etwas ungezwungener zugeht«, sagte Mary Ann.
    »Mögen Sie Vegas?«
    »Sir?«
    »Earl.«
    »Wie?«
    »Ich heiße Earl. Ungezwungen … so sagten wir doch, nicht?« Grinsend wischte er sich über die Stirn. Er schwitzte ziemlich stark. »Ich habe gefragt, ob Ihnen Vegas gefällt. Wir sind ziemlich oft in Vegas. Vegas, Sacramento, LA., Hawaii. Das bringt ’ne Menge Spesen zusätzlich.«
    »Klingt ja … richtig gut.«
    Er zwinkerte ihr zu. »Wenn Sie nicht … Sie verstehen … zugeknöpft sind.«
    »Ach.«
    »Ach was?«
    »Ich bin zugeknöpft, Mr. Creech.«
    Er schnappte sich eine Büroklammer vom Schreibtisch und bog sie, ohne hochzuschauen, langsam auseinander. »Die nächste«, sagte er ruhig.
    »Sir?«
    »Raus mit Ihnen.«
     
    Sie ging nach Hause in ihre neue Wohnung und heulte. Als die Nachmittagssonne sich durch das Fenster ergoß, schlief sie ein. Um fünf wachte sie auf und scheuerte aus therapeutischen Gründen die Küchenspüle blitzblank. Sie aß etwas Blaubeerjoghurt und machte eine Liste von Dingen, die sie für ihre Wohnung brauchte.
    Sie schrieb einen Brief an ihre Eltern. Optimistisch, aber vage.
    Draußen vor der Tür war ein Geräusch. Nach kurzem Lauschen öffnete sie. Sie sah gerade noch flatternde pflaumenfarbene Seide, die nach unten entschwand.
    Mary Ann fand einen Zettel an ihrer Tür:
     
    Eine Kleinigkeit aus meinem Garten,
    um dich in deinem neuen Heim
    willkommen zu heißen.
    Anna Madrigal
    P.S.: Ich bring dich um, wenn du
    deiner Mutter etwas davon sagst.
     
    Auf dem Zettel klebte ein feinsäuberlich gerollter Joint.
Auftritt Mona
    Die Frau unten an den Mülltonnen hatte krause rote Haare und trug ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher