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Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten

Titel: Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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Der Sprung ins kalte Wasser
    Mary Ann Singleton war fünfundzwanzig, als sie zum erstenmal nach San Francisco kam.
    Sie kam allein und wollte eine Woche Urlaub machen. Am fünften Abend stellte sie nach drei Irish coffee im Buena Vista fest, daß ihr Stimmungsring blau schimmerte, und beschloß, ihre Mutter in Cleveland anzurufen.
    »Hallo, Mom. Ich bin’s.«
    »Ach, Liebling. Dein Daddy und ich haben gerade von dir gesprochen. Bei McMillan and Wife haben sie heute über diesen Irren berichtet, der reihenweise Sekretärinnen erwürgt hat, und da mußte ich natürlich …«
    »Mom …«
    »Ich weiß schon. Deine verrückte alte Mom macht sich mal wieder ganz umsonst krank vor Sorgen. Aber es passiert doch wirklich so viel. Denk bloß an die arme Patty Hearst, die in einer Abstellkammer eingesperrt war, mit all diesen schrecklichen …«
    »Mom … Ferngespräch.«
    »Ach so … ja. Gott, wie mußt du es gerade schön haben.«
    »O ja … du machst dir keine Vorstellung! Die Leute sind hier so freundlich, daß ich mir vorkomme wie …«
    »Bist du ins Top of the Mark gegangen, wie ich’s dir gesagt hab?«
    »Noch nicht.«
    »Daß du mir das bloß nicht ausläßt! Du weißt, dahin hat mich dein Daddy ausgeführt, als er aus dem Südpazifik zurückkam. Ich weiß noch, wie er dem Bandleader fünf Dollar zugesteckt hat, damit wir zu Moonlight Serenade tanzen konnten. Und wie ich einen Tom Collins verschüttet habe über seine wunderschöne weiße Marine …«
    »Mom, ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust.«
    »Aber sicher, Liebling. Nur hör mir jetzt mal zu. Oh … bevor ich es vergesse: Gestern ist mir in der Ridgemont Mall Mr. Lassiter über den Weg gelaufen, und er hat mir gesagt, daß im Büro alles zusammenbricht ohne dich. Sie haben nicht viele gute Sekretärinnen bei Lassiter Fertilizers.«
    »Mom, wo wir schon dabei sind …«
    »Ja, mein Schatz?«
    »Ich möchte, daß du Mr. Lassiter anrufst und ihm sagst, daß ich am Montag nicht komme.«
    »Aber … Mary Ann, ich weiß nicht, ob du um eine Urlaubsverlängerung bitten solltest.«
    »Es geht nicht um eine Verlängerung, Mom.«
    »Ja, aber warum …?«
    »Ich komm nicht wieder zurück, Mom.«
    Stille. Dann war von weiter weg eine gedämpfte Fernsehstimme zu hören, die Mary Anns Vater zeitweilige Erleichterung bei Hämorrhoiden versprach. Schließlich war wieder ihre Mutter dran: »Red keinen Unsinn, mein Schatz.«
    »Mom … Ich rede keinen Unsinn. Es gefällt mir hier. Ich fühle mich schon wie zu Hause.«
    »Mary Ann, falls da ein Junge seine Finger im …«
    »Es gibt keinen Jungen … Ich hab mir das gut überlegt.«
    »Sei doch nicht albern! Du bist grade mal fünf Tage da!«
    »Mom, ich weiß, was das für dich heißt, aber … Weißt du, das hat mit dir und Daddy überhaupt nichts zu tun. Ich möchte bloß mein eigenes Leben führen … mit einer eigenen Wohnung und so.«
    »Ach, darum geht’s. Aber mein Schatz … das ist doch kein Problem. Ehrlich gesagt haben dein Daddy und ich schon mal darüber geredet, daß diese neuen Apartments draußen in Ridgemont wahrscheinlich genau das richtige für dich wären. Die vermieten dort viel an junge Leute, und es gibt einen Swimmingpool und eine Sauna, und ich könnte dir solche zauberhaften Vorhänge nähen, wie ich sie Sonny und Vicki zur Hochzeit geschenkt habe. Und dort wärst du so ungestört, wie du …«
    »Du hörst mir nicht zu, Mom. Ich versuche, dir beizubringen, daß ich eine erwachsene Frau bin.«
    »Na, dann benimm dich auch wie eine! Du kannst nicht einfach … von deiner Familie fortlaufen und von deinen Freunden, um unter lauter Hippies und Massenmördern zu leben!«
    »Du sitzt zuviel vor dem Fernseher.«
    »Jaja … Und was ist mit dem ›Horoskop‹?«
    »Wie?«
    »Mit diesem Horoskop-Typen. Diesem Verrückten. Diesem Mörder.«
    »Mom … Das ist der Sternzeichen-Mörder.«
    »Ist doch alles eins. Und was ist mit … mit den Erdbeben? Ich hab diesen Film gesehen, Mary Ann, und ich bin fast gestorben, als Ava Gardner …«
    »Würdest du bitte einfach Mr. Lassiter für mich anrufen?«
    Ihre Mutter begann zu weinen. »Du kommst bestimmt nie wieder. Ich weiß es genau.«
    »Mom … bitte … ich komm wieder. Das versprech ich dir.«
    »Aber du bist dann nicht mehr … dieselbe!«
    »Nein. Hoffentlich nicht.«
     
    Nach dem Telefonat verließ Mary Ann die Bar und spazierte durch den Aquatic Park an die Bay. Dort stand sie einige Zeit im kalten Wind und schaute zum Leuchtfeuer auf
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