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Stadt unter dem Eis

Titel: Stadt unter dem Eis
Autoren: Thomas Greanias
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ernähren. Sie brauchen einen Sündenbock für ihre Arbeitslosigkeit. Da komme ich ihnen gerade recht.«
    »Typisch, Signorina, Sie segnen auch noch Ihre Feinde.«
    »Feinde gibt es nicht, Benito. Nur Missverständnisse.«
    »Sie sprechen wie eine wahre Heilige«, sagte er.
    Sie hatten die Menge am Tor hinter sich zurückgelassen und fuhren nun die gewundene Auffahrt hinauf.
    »Benito, wissen Sie eigentlich, warum mich der Heilige Vater zu einer Privataudienz in die Ewige Stadt zitiert hat?« Wie beiläufig strich sie ihre Hose glatt und versuchte, ihre steigende Nervosität zu verbergen.
    »Bei Ihnen kann alles Mögliche dahinterstecken.« Benito lächelte in den Rückspiegel, wobei ein Goldzahn zum Vorschein kam. »Bei dem Ärger, den Sie machen.«
    Leider ist das nur allzu wahr, dachte Serena. Als sie noch Nonne war, lag sie gewöhnlich mit ihren Vorgesetzten im Clinch. Sie war eine Außenseiterin innerhalb der eigenen Kirche gewesen. Immerhin stand der Papst üblicherweise auf ihrer Seite. Der Newsweek gegenüber hatte er einmal geäußert: »Schwester Serghetti tut genau das, was Gott auch täte, wenn Er die Fakten kennen würde.« Das war gute Werbung gewesen, aber ihr war auch bewusst, dass keine Instanz der öffentlichen Meinung sie innerhalb dieser Mauern beschützen konnte.
    Serena Serghetti war einer illegalen Verbindung zwischen einem katholischen Priester und einer Haushälterin entsprungen. Ihre Kindheit in der Nähe von Sydney war von tiefer Scham überschattet gewesen. Sie wuchs mit gemeinem Getuschel auf und hasste ihren Vater, der seine Vaterschaft bis zum Schluss leugnete. Er endete als versoffener Betrüger. Sie brachte die Gerüchte zum Schweigen, indem sie mit zwölf Jahren Keuschheit gelobte, sich beim Erlernen von Sprachen auszeichnete und, was am schockierendsten von allem war, mit 16 Jahren in ein Kloster eintrat. Innerhalb weniger Jahre wurde sie eine Ikone gelebten Glaubens und ein wandelndes Mahnmal für die ökologischen Sünden der Menschheit.
    Solange das andauerte, fast sieben Jahre lang, konnte sie sich nicht beklagen. Doch dann kehrte sie einige Monate nach einer persönlichen Krise in Südamerika nach Rom zurück, um geistlichen Rat zu suchen, und stellte fest, dass der Vatikan seine Wasserrechnungen nicht zahlen wollte und sich dabei auf seinen Status als unabhängiger Staat und auf die dubiosen Lateranverträge aus dem Jahre 1929 berief, denen zufolge Italien das Wasser für die 0,44 km² große Enklave kostenlos liefern musste, ohne dass darin die Frage der Abwassergebühren geklärt worden wäre. »Weder zahlen wir dem Kaiser, was des Kaisers ist, noch erweisen wir Gott die Ehre, die wir Ihm als Schöpfer dieser Welt schulden«, erklärte sie, als sie ihrem Gelübde öffentlich abschwor, um sich fortan in den Dienst der Umwelt zu stellen.
    Schon damals tauften die Medien sie ›Mutter Erde‹. Seitdem nannten die Leute sie so oder eben Schwester Serghetti. Wahrscheinlich war sie die berühmteste Exnonne der Welt. Ähnlich wie Prinzessin Diana in den Jahren vor ihrem Tod, so gehörte auch Serena nicht mehr der ›königlichen‹ Familie der Kirche an, war aber irgendwie zur ›Königin der Herzen‹ geworden.
    Die Schweizergardisten in ihren blau-rot-gelben Uniformen standen stramm, als die Limousine vor dem Amtspalast des Heiligen Vaters hielt. Noch bevor Benito Serena die Tür öffnen und ihr einen Schirm reichen konnte, eilte sie im Regen bereits leichtfüßig die Treppe hinauf. Ihre Turnschuhe platschten in den Pfützen, während sie das Gesicht gen Himmel reckte, um die Regentropfen zu genießen. Angesichts ihrer bisherigen Erfahrung mit dem Vatikan würde es wahrscheinlich eine Weile dauern, bis sie wieder frische Luft schnappen konnte. Als sie durch die offene Tür schritt, lächelte ihr eine der Wachen zu.
    Innen war es warm und trocken. Der junge Jesuit, der sie erwartete, erkannte sie sofort. »Schwester Serghetti«, begrüßte er sie herzlich. »Bitte hier entlang.«
    In den zahlreichen Büros, an denen sie vorbeikam, während sie dem Jesuiten durch ein Labyrinth von Amtskorridoren zu einem alten Aufzug folgte, herrschte rege Betriebsamkeit. Und das alles hat einmal mit einem armen jüdischen Zimmermann angefangen, dachte sie. Sie betraten den Aufzug, und die Tür schloss sich.
    Ob sich Jesus in dieser Kirche genauso fremd gefühlt hätte wie sie?
    Beim Anblick ihres Spiegelbilds in der Metalltür des Aufzugs runzelte sie die Stirn und strich sich die Jacke glatt.
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