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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden
Autoren: China Miéville
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Fertigkeiten – ein paar Monate später, nach jenen Tests, die Rechte gegeben werden sollten, in das Außen hinein zu entwelten.

0.3
    In jedem Schuljahr war der zweite Monatling des Dezembers den Prüfungen gewidmet. Bei den meisten ging es natürlich darum, was wir in unseren Unterrichtsstunden gelernt hatten, doch es gab auch ein paar Tests, die ausgefallenere Fähigkeiten abwägen sollten. Nicht viele von uns punkteten besonders hoch in diesen Letztgenannten, in diesen mannigfaltigen Begabungen, die anderswo geschätzt wurden – im Außen. In Botschaftsstadt starteten wir von den falschen Voraussetzungen aus, wie man uns sagte: Wir hatten die falschen Mutagene, die falsche Ausrüstung, einen Mangel an Bestreben. An den Prüfungen, die ein wenig abgehobener waren, nahmen viele der Kinder nicht einmal teil. Ich aber wurde dazu ermuntert, was meiner Vermutung nach bedeutet, dass meine Lehrer und Schichteltern etwas in mir gesehen hatten.
    In den meisten Dingen war meine Leistung vollkommen ausreichend. Ich war gut in Rhetorik und in einigen performativen Elementen der Literatur, was mich erfreute, sowie im Lesen von Poesie. Aber worin ich mich auszeichnete, wie sich herausstellte – ohne zu wissen, was es war, was ich da tat –, waren bestimmte Aktivitäten, deren Zweck ich nicht erahnen konnte. Ich starrte auf einen Abfrage-Bildschirm mit bizarren Plasmings. Ich musste in verschiedenen Weisen auf sie reagieren. Es nahm ungefähr eine Stunde in Anspruch, und alles war gut gestaltet wie bei einem Spiel, sodass ich mich nicht langweilte. Ich ging zu anderen Aufgaben über. Keine davon testete mein Wissen, vielmehr prüften sie Reaktionen, Intuitionen, Innenohr-Kontrolle, Nervosität. Was sie maßen, war die mögliche Eignung zur Immer-Eintauchung.
    Die Frau, welche die Sitzungen leitete, war jung und wirkte stilvoll in ihrer eleganten Kleidung, die sie von einer Mitarbeiterin des Personals aus Bremen ausgeliehen, eingetauscht oder erbettelt hatte und die der aktueller Mode im Außen entsprach. Sie ging meine Ergebnisse mit mir durch und sagte mir, was sie bedeuteten. Ich konnte sehen, dass sie nicht unbeeindruckt war. Sie hob mir gegenüber hervor, nicht auf grausame Weise, sondern nur, um jeglichen späteren Ärger zu vermeiden, dass dies nichts entschied und nur die erste Stufe war, der noch viele folgen würden. Doch als sie dies erklärte, war mir klar, ich würde eine Immer-Eintaucherin werden, und so geschah es auch. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt lediglich begonnen, die Kleinheit von Botschaftsstadt zu empfinden und in meiner Platzangst darauf zu schimpfen. Aber mit den Ausführungen dieser Frau kam die Ungeduld.
    Ich erschlich mir Einladungen zu Ankunftsbällen, als ich alt genug dafür war, und verkehrte freundschaftlich mit Männern und Frauen aus dem Außen. Ich hatte Freude an der scheinbaren Unbekümmertheit, mit der sie Länder auf anderen Planeten erwähnten, und beneidete sie zugleich deswegen.
    Erst Kilostunden oder Jahre später erkannte ich wirklich, dass meine Lebensbahn weit weniger unvermeidlich gewesen war, als ich damals geglaubt hatte. Viele Studenten hatten mehr Talent als ich und keinen Erfolg, es hätte ebenso gut sein können, dass mein Fortgehen scheiterte. Meine Geschichte war das Klischee, doch der misslungene Versuch kam bei Weitem häufiger vor. Die Erkenntnis dieser Zufälligkeit sollte später dazu führen, dass mir im Nachhinein noch übel wurde, als könnte es mir immer noch misslingen, obwohl ich in jener Zeit bereits im Außen war.
    Sogar Leute, die niemals in das Immer eingetaucht sind, glauben, sie wüssten – mehr oder weniger, wie sie möglicherweise einräumen –, was das Immer ist. Sie wissen es nicht. Diese Auseinandersetzung hatte ich einst mit Scile. Es war das zweite Gespräch, das wir je hatten (das erste ging über Sprache). Er begann die Unterhaltung mit seinen Ansichten, und ich erwiderte ihm, dass ich nicht daran interessiert sei zu hören, was Hinterwäldler womöglich über dasImmer dachten. Wir lagen im Bett, und er neckte mich, als ich mich weiter über seine Ignoranz ausließ.
    »Was redest du da eigentlich?«, fragte er. »Nicht einmal du selbst glaubst an das, was du da sagst, dafür bist du zu klug. Du lässt doch bloß die Immer-Eintaucher-Scheiße vom Stapel. Ich könnte diesen Scheiß im Schlaf von mir geben. ›Niemand versteht es wie wir – nicht die Wissenschaftler, nicht die Politiker, nicht die verdammte Öffentlichkeit!‹ Das ist deine
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