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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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Abfälle, und wenn es nachts regnete, stieg Quinn hinein, um trocken zu bleiben. Der Geruch in der Tonne war überwältigend, und er brachte ihn tagelang nicht aus seinen Kleidern heraus, aber Quinn zog ihn dem Naßwerden vor, denn er wollte nicht das Risiko eingehen, sich zu erkälten oder krank zu werden. Zum Glück war der Deckel verbogen und paßte nicht mehr ganz auf die Tonne. In einer Ecke klaffte ein Spalt von fünfzehn oder zwanzig Zentimetern, eine Art Luftloch, durch das Quinn die Nase in die Nacht hinausstecken und atmen konnte. Wenn er auf den Abfällen kniete und den Oberkörper gegen die Wand der Tonne lehnte, fand er seine Lage gar nicht so unbequem. In klaren Nächten schlief er unter der Tonne und legte seinen Kopf so, daß er den Vorderein­gang des Hauses der Stillmans sehen konnte, sobald er die Augen öffnete. Seine Blase entleerte er gewöhnlich in einer fernen Ecke der Gasse hinter der Mülltonne, mit dem Rücken zur Straße. Die Eingeweide waren eine andere Angelegenheit, und er stieg gewöhnlich in die Tonne, um nicht gesehen zu werden. Neben der Tonne standen noch einige Plastikmülleimer, und in einem davon fand Quinn meistens eine Zeitung, mit der er sich abputzen konnte. Einmal allerdings war er in einem dringenden Fall gezwungen, ein Blatt aus seinem Notizbuch zu nehmen. Was das Waschen und Rasieren anbetraf, so gehörten sie zu den Dingen, auf die Quinn zu verzichten gelernt hatte. Wie es ihm während dieser Zeit gelang, verborgen zu bleiben, ist ein Geheimnis. Aber es scheint, daß ihn niemand entdeckte und niemand die Behörden auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Zweifellos durchschau­te er rasch den Zeitplan der Müllabfuhr und verschwand aus der Gasse, wenn sie kam. Das gleiche galt für den Hausmeister, der jeden Abend die Abfälle in die Tonne und in die Eimer leerte. So ungewöhnlich es scheinen mag - niemand bemerkte jemals Quinn. Er war gleichsam mit den Mauern der Stadt verschmolzen. Die Probleme der Haushaltung und des materiellen Lebens beanspruchten einen gewissen Teil des Tages. Meistens hatte Quinn jedoch reichlich Zeit. Da er nicht wollte, daß ihn jemand sah, mußte er anderen Menschen so systematisch wie nur möglich ausweichen. Er konnte sie nicht ansehen, er konnte nicht mit ihnen sprechen, er konnte nicht über sie nachdenken. Quinn hatte sich immer für einen Mann gehalten, der gern allein war. In den letzten fünf Jahren hatte er das Alleinsein auch absichtlich gesucht. Aber erst jetzt, als sein Leben in der Gasse weiter- und weiterging, begann er das wahre Wesen der Einsamkeit zu verstehen. Er konnte auf nichts anderes mehr zurückfallen als auf sich selbst. Und von allen Dingen, die er während der Tage dort entdeckte, war dies das eine, das er nicht anzweifelte: daß er fiel. Was er jedoch nicht verstand, war dies: Wie konnte man, da er doch fiel, von ihm erwarten, daß er sich ebenso auch wieder fing? War es möglich, zugleich oben und unten zu sein? Viele Stunden verbrach­te er damit, zum Himmel hinaufzusehen. In seiner Lage hinten in der Gasse, eingeklemmt zwischen Mülltonne und Mauer, gab es wenig anderes zu sehen, und als die Tage vergingen, begann er an der Welt über ihm Gefallen zu finden. Er sah vor allem, daß der Himmel nie still war. Auch an wolkenlosen Tagen, wenn überall nur das Blau zu herrschen schien, gab es ständig kleine Veränderungen, leichte Störungen, und der Himmel wurde flacher und tiefer, und es kam die plötzliche Weiße von Flugzeugen, Vögeln und fliegenden Papierfetzen. Wolken machten das Bild komplizierter, und Quinn verbrachte viele Nachmit­tage damit, sie zu studieren, zu versuchen, ihre Art, ihr Wesen zu begreifen, zu sehen, ob er nicht voraussagen konnte, was mit ihnen geschehen werde. Er machte sich vertraut mit den Zirrus-, Kumulus-, Stratus- und Nimbostratus-Wolken und all ihren Kombinationen, wartete auf jede Art und sah, wie sich der Himmel unter ihrem Einfluß veränderte. Mit den Wolken kam auch die Farbe, und er hatte sich mit einer weiten Skala von Schwarz bis Weiß und einer Unendlichkeit grauer Zwischentöne zu beschäf­tigen. All das mußte erforscht, gemessen und entziffert werden. Dazu kamen die Pastelltöne, die entstanden, sooft zu gewissen Tageszeiten die Sonnenstrahlen die Wolken trafen. Das Spektrum der Variablen war ungeheuer, und das Ergebnis hing jeweils von den Temperaturen der verschiedenen Schichten der Atmosphäre, dem Typus der am Himmel vorhandenen Wolken und dem Stand der Sonne in
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