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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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einem gegebenen Augenblick ab. Aus all dem ergaben sich das Rot und das Rosa, die Quinn so sehr liebte, der Purpur und der Zinnober, das Orange und der Lavendel, das Gold und die federförmigen Persimonen. Nichts dauerte lange. Die Farben zerflossen bald, ver­mischten sich mit anderen, zogen weiter oder verblaßten, wenn die Nacht erschien. Beinahe immer wehte ein Wind, der diese Vorgänge beschleunigte. Dort, wo er in der Gasse saß, konnte Quinn ihn nur selten spüren, aber indem er seine Wirkung auf die Wolken beobachtete, vermochte er seine Stärke und die Art der Luft, die er bewegte, abzuschätzen. Nacheinander zogen alle Witterungs­erscheinungen über seinen Kopf hin, vom Sonnenschein bis zum Sturm, von Düsterkeit bis zu strahlender Helle. Morgen- und Abenddämmerungen gab es zu beobachten, die Verwandlungen des Mittags, die frühen Abende, die Nächte. Selbst in seiner Schwärze ruhte der Himmel nicht. Wolken trieben durch die Dunkelheit, der Mond hatte stets eine andere Gestalt, der Wind hörte nicht auf zu wehen. Manchmal zeigte sich sogar ein Stern in dem kleinen Fleckchen Himmel, das Quinn gehörte, und während er hinaufsah, fragte er sich, ob er noch da oben oder schon längst ausgebrannt war.

    Die Tage kamen und gingen. Stillman erschien nicht.
    Zuletzt hatte Quinn kein Geld mehr. Schon seit einiger Zeit hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und gegen Ende hatte er seine Mittel mit manischer Präzision zusammengehalten. Er gab keinen Cent aus, ohne zuerst die Notwendigkeit dessen zu prüfen, was er zu brauchen glaubte, ohne zuerst die Folgen und das Für und Wider abzuwägen. Doch auch die strengste Sparsamkeit konnte das Unvermeidliche nicht aufhalten. Es war etwa Mitte August, als Quinn feststellte, daß er nicht mehr durchzuhalten vermochte. Der Autor fand das Datum durch gründliche Nachforschungen bestätigt. Es ist jedoch möglich, daß dieser Augenblick schon Ende Juli oder erst Anfang September eintrat, da alle Untersuchungen dieser Art einen gewissen Spielraum für Irrtümer berücksichtigen müssen. Nach bestem Wissen, sorgfältiger Prüfung des Beweismaterials und Ausschaltung aller offensichtlichen Widersprüche verlegt der Autor jedoch die folgenden Ereignisse in den Monat August, etwa in die Zeit zwischen dem zwölften und dem fünfundzwanzigsten. Quinn besaß nun so gut wie nichts mehr - einige Münzen, die keinen ganzen Dollar mehr ausmachten. Er war sicher, daß in seiner Abwesenheit Geld für ihn eingetroffen war. Er mußte nur die Schecks aus dem Schließfach im Postamt holen, zur Bank gehen und sie einlösen. Wenn alles gutging, konnte er binnen weniger Stunden wieder in der 69th Street sein. Wir werden nie erfahren, was für Qualen es ihn kostete, seinen Platz zu verlassen. Er hatte nicht genug Geld, um den Bus zu nehmen. Zum erstenmal seit vielen Wochen begann er zu gehen. Es war seltsam, wieder auf den Beinen zu sein, sich stetig von einem Ort zum anderen zu bewegen, die Arme zu schwingen, das Pflaster unter den Schuhsohlen zu spüren. Und doch ging er die 69th Street entlang nach Westen, bog in der Madison Avenue nach rechts ab und setzte seinen Weg nach Norden fort. Seine Beine waren schwach, und er hatte ein Gefühl, als wäre sein Kopf aus Luft. Immer wieder mußte er stehenbleiben, um Atem zu schöpfen, und einmal mußte er sich, dem Zusammenbrechen nahe, an einem Laternenpfahl festhalten. Er entdeckte, daß er leichter vorankam, wenn er die Füße so wenig wie möglich hob und mit langsamen, gleitenden Schritten dahinschlurfte.
    Auf diese Weise konnte er Kräfte sparen für die Straßenecken, wo er vor und nach jedem Schritt vom Rand des Gehsteigs hinunter und dann wieder auf den Gehsteig hinauf sorgfältig auf sein Gleichgewicht achten mußte.
    In der 84th Street blieb er kurz vor einem Laden stehen. An der Fassade war ein Spiegel angebracht, und zum erstenmal seit dem Beginn seiner Wache sah sich Quinn. Nicht, daß er Angst davor gehabt hätte, seinem eigenen Bild gegenüberzutreten. Er hatte einfach nicht daran gedacht. Er war zu sehr mit seiner Aufgabe beschäftigt gewesen, um an sich selbst zu denken, und die Frage seines Aussehens hatte gewissermaßen aufgehört zu existieren. Als er sich nun im Spiegel des Ladens sah, war er weder schockiert noch enttäuscht. Er fühlte gar nichts, denn in Wirklichkeit erkannte er sich in der Person, die er sah, nicht wieder. Er glaubte, einen Fremden im Spiegel zu erblicken, und in diesem ersten Augenblick drehte er
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