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Stachelzart

Stachelzart

Titel: Stachelzart
Autoren: Jasmin Wollesen
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alleine. Außerdem war Vera der kompromissloseste Mensch, den ich kannte. Sie hatte ihre Meinung und die Welt hatte sich danach zu richten – basta!
Warum ausgerechnet Vera und ich blutsverwandt waren, ließ sich wahrscheinlich nur auf eine merkwürdige Laune der Natur zurückführen. Selbst äußerlich sahen wir uns in keinster Weise ähnlich. Vera war groß und blond und schon fast zu dünn für ihre Größe. Ich war klein und dunkelhaarig und musste genau darauf achten, was ich aß, wenn ich eine einigermaßen passable Figur haben wollte.
    Mein großer Vorteil war allerdings der Altersfaktor. Mit meinen 28 Jahren war ich genau 27 Jahre jünger als Vera. Über ihr Alter sprach Vera natürlich nicht. Und nach diversen Schönheitsoperationen hatte sie auch einige Jahre wieder wettgemacht. Obwohl ihr Gesicht für meinen Geschmack manchmal etwas zu künstlich wirkte. Ich mochte Falten. Sie gehörten doch zum Leben dazu. Ein gebotoxtes Gesicht wirkte auf mich immer so seelenlos.
    Wegen ihres Jugendwahns durfte ich, seit ich zwölf Jahre alt war, nicht mehr „Mama“ zu Vera sagen, obwohl sie genau das war: Meine Mutter! 
    „Kind, was sollen denn die Leute denken, wenn ein so großes Mädchen mich Mama nennt. Die glauben doch, ich wäre uralt. Nenn mich ab jetzt bitte Vera!“, befahl sie mir eines Tages.
    Und da man Veras Befehlen besser Folge leistete, war ich also mit zwölf quasi mutterlos. Zumindest in der Öffentlichkeit. Denn in mein Leben hat Vera sich natürlich dennoch eingemischt. Und tat es auch heute noch.
     
    Natürlich habe ich mir Veras Verhalten nicht gefallen lassen. Ich war sogar ein recht ketzerisches Kind. Eine Zeitlang machte es mir richtig viel Spaß, Vera mit meiner verspielt-kreativen Art zu ärgern. Ich zog mich an, wie es mir passte. Meist lief ich mit verschiedenfarbigen Strümpfen herum und trug Kleider im Pippi-Langstrumpf-Stil. Das tat ich besonders gerne, wenn Vera mal wieder langweilige Gäste eingeladen hatte, die ihre noch langweiligeren Kinder mitbrachten. Alle waren mehr oder weniger gleich gekleidet. Die Herren kamen in Stoffhose und Hemd, die Damen in Jeans, Markenbluse, Slippern und Perlenohrringen. Die Kinder waren entsprechend gekleidet, quasi wie Miniaturausgaben ihrer Eltern. Da fiel ich mit meinem Kleidungsstil natürlich aus der Rolle. Meine wild-gelockten Haare kämmte ich an diesen Tagen absichtlich nicht, so dass ich wahrscheinlich sehr der Figur „Momo“ aus Michael Endes Roman ähnelte.
    Mir war es auch recht, Vera dann nicht „Mama” zu nennen und ich glaube, dass Vera mich auch öfter als das Kind ihrer Schwester ausgab. In Wahrheit hatte Vera natürlich gar keine Schwester. Sie war ein Einzelkind, genau wie ich.
Wenn die Kinder der anderen Gäste gefragt wurden, was sie später werden wollten, kamen meistens Antworten wie „Arzt“, „Anwalt“ oder sogar „Steuerberater“.
    Wurde ich gefragt, antwortete ich: „Marmeladentesterin oder Klobrillendesignerin oder Schriftstellerin!“
    Diese Erwiderung hatte dann meist ein Naserümpfen seitens der Erwachsenen zur Folge, mit der aber durchaus höflich gemeinten Aussage: „Na, zumindest hat sie Fantasie!“ und einem mitleidigen Lächeln in Veras Richtung. Wer wusste, dass ich nicht Veras Nichte, sondern ihre Tochter war, schob meine Art auf den unbekannten Vater. Von der überaus integren Vera konnte ich das ja nicht haben.
    Über meinen Vater wusste ich leider gar nichts. Vera sprach nie über ihn. Sie hatten sich schon vor meiner Geburt getrennt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt von meiner Existenz wusste. Aber soviel ich auch bettelte, mehr über ihn zu erfahren, Vera schwieg wie ein Grab.
    „Glaub mir Anna, es ist besser so!“ war ihr Standardspruch.
    Ich fand das nicht besser. Besonders in der Pubertät, wenn alle Jugendlichen sich fragten, wer sie sind, fehlte mir dieses bedeutende Puzzlestück zu meiner eigenen Identität. Mein Vater musste mir ähnlich sein, denn von Vera hatte ich wirklich gar nichts. Aber aus Vera war nichts heraus zu bekommen. Und auch ihre Eltern, meine Großeltern, konnte ich nicht fragen, denn sie waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Vera zwanzig war. So blieb mir nur die Möglichkeit, mir einen Vater auszudenken. Manchmal stellte ich mir vor, er würde wie George Clooney aussehen und wäre auch ebenso berühmt. Und eines Tages würde er mich besuchen kommen, weil er gerade erst von meiner Existenz erfahren hätte und er würde mich
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